Hier leben Weltenbummler.

Wer die beiden zu Hause im österreichischen Gappen im Salzburger Land besucht, der weiß sofort, wenn er die Küche betritt, dass hier Weltenbummler leben. Ein Camping-Gaskocher ist in Betrieb, der konventionelle Herd dient lediglich als Arbeitsfläche. Melanie Heitmann und Stefan Krallinger brauchen Feuer zum Kochen. Echte Flammen. Der gebürtige Österreicher ist gelernter Hotel- und Touristikkaufmann. Aufgewachsen ist er gegenüber im ehemaligen Hotel seiner Eltern, zwischen Dachsteinmassiv und Tennengebirge. Heute vermietet der 39-Jährige Ferienwohnungen und eine Kneipe, die man vom Küchenfenster aus sieht. Im Wohnzimmer brennt Holz im Ofen, kein Schnickschnack irgendwo, selbst im Bad wirkt es so, als wäre alles schnell gepackt, um zur nächsten Reise zu starten. „Wir haben wenige persönliche Dinge, unser Luxus ist die Freiheit“, erklärt Melanie Heitmann den Minimalismus in den eigenen vier Wänden.

Laos: Melanie und Stefan glücklich am Kuang-Si-Wasserfall.

Bolivien: Den Titicacasee überquerten die Weltreisenden und ihr treuer Wegbegleiter auf einer Holzfähre.

100 Länder auf fünf Kontinenten.

Fünfeinhalb Jahre lang lebten die 38-jährige gebürtige Deutsche und ihr Partner aus Österreich tagsüber im Mercedes-Benz 190 D, nachts in einem 16 Quadratmeter großen Zelt, das sie in Form eines knapp zwei Meter langen Anhängers hinter sich herzogen. Die Weltreise, bei der sie 100 Länder auf fünf Kontinenten besuchen wollten, startete im Januar 2015 mit der Verschiffung des damals gerade 26 Jahre alt gewordenen W 201 nach Montevideo, Uruguays Hauptstadt. Wenig später flogen sie nach. „Eigentlich wollten wir in Brasilien losfahren, aber die Einfuhr von älteren Diesel-Modellen ist dort nicht erlaubt“, erzählt Stefan, dem es wichtig war, dem Sommer hinterherzureisen, der Kälte zu entkommen. Die Idee zu einer Weltreise beschäftigte ihn bereits seit Langem. Damals, 2011, nahm er an der Dust-and-Diesel-Rallye teil, einer Charity-Veranstaltung. Sie endete mit der Versteigerung der Fahrzeuge, deren Erlös einem Waisenhaus in Mauretanien zugutekam.

Ein Wohnzimmer mit Viergang-Schaltgetriebe.

„Ich startete mit einem Baby-Benz, den ich günstig erworben hatte, und es dauerte nicht lange, bis ich mich in das Auto verliebte“, erinnert sich Stefan an seine erste Berührung mit diesem Modell. „Wir sind über Schotterpisten gefahren, durch die Wüste, durch Wasser – der W 201 war unzerstörbar.“ Beeindruckt von der Robustheit kaufte er sich kurz nach der Rallye einen weiteren W 201 aus dem Jahr 1989 und träumte von einer Reise um die Welt. „Ich habe meine Reifenabdrücke im Wüstensand hinterlassen. Im Gegenzug hat sich die Idee dieser Rallye um die Welt in mein Hirn gebrannt.“

 Das Motto seiner Weltumrundung kam ihm schnell in den Sinn: „5 continents 100 countries“, oder 5c100c – kurz wie ein Logbuch-Eintrag aus der Seefahrt. Alle Menschen, die ihn auf der Reise unterstützten, dachte er, sollten auf dem Auto unterschreiben. Fehlte nur noch die richtige Frau an seiner Seite. Es sollte keine zwei Jahre mehr dauern, bis sich die beiden im Internet kennenlernten und verliebten, 2013. Als Melanie von seiner Idee hörte, stand sie gerade zum ersten Mal neben dem Baby-Benz: „Kannst du dir vorstellen, dass das künftig unsere Wohnung ist?“ Ein Wohnzimmer mit Viergang-Schaltgetriebe und 72 PS? Ihre Antwort: „Ja!“

Südlich vor Marrakesch: Sir Richard Branson besitzt hier im Atlasgebirge ein Hotel – und verewigte sich mit wasserfestem Stift und Signatur auf dem 190 D.

Hunderte Unterschriften auf dem Lack.

Heute zieren Hunderte Unterschriften den Lack des Fahrzeugs. „Alle Menschen, die uns unterwegs geholfen haben, durften sich auf dem Lack des W 201 verewigen“, erzählt die Norddeutsche. Die Unterstützung konnte Wasser sein, ein paar Liter Diesel, Obst, Stellplätze, eine Gasflasche oder einfach nur eine Umarmung. Auch einige berühmte Persönlichkeiten hinterließen eine Widmung: Multiunternehmer Sir Richard Branson, YouTube-Star Casey Neistat, Boxer Sven Ottke und Dr. Dieter Zetsche, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Daimler AG.

Die Weltreise der Abenteurer teilte sich auf in drei Etappen, zwischendurch besuchten sie Freunde und Familie zu Hause. Der erste Teil dauerte eineinhalb Jahre und führte sie von Südamerika über Nord- und Mittelamerika nach Alaska, an die Ostküste der USA, nach Kanada, Florida und New York. Sie starteten mit 15 000 Euro Ersparnissen. Als das Geld fast ausgegeben war – „wir brauchten rund tausend Euro pro Monat“, sagt Stefan –, machte er sein Hobby zur Einnahmequelle: Er fotografierte Luxushotels mit der Drohne. Die Bilder tauschten die beiden gegen ein Abendessen, einen Schlafplatz oder auch mal gegen Bares.

Besonders heiß in Malaysia und Australien.

Die größte Herausforderung unterwegs sei ohnehin nicht das Geldverdienen gewesen, sondern in vielen Ländern die Hitze. „Ohne Klimaanlage im Auto streitet man viel schneller“, erzählt Melanie, „über die banalsten Dinge.“ Besonders heiß sei es in Malaysia und Australien gewesen. Ans Aufgeben haben sie trotzdem nicht ein einziges Mal gedacht. „Wir sind sehr unterschiedlich. Stefan ist taffer als ich, hat aber auch weniger Geduld. Ich bin manchmal ein bisschen unsicher, möchte es jedem recht machen und auf keinen Fall im Mittelpunkt stehen“, meint Melanie, was nicht leicht ist als blonde Frau mit hellen Augen und einer Größe von 1,78 Meter. In China und auch auf Bali haben sich viele Leute mit ihr zusammen fotografiert. 

„Sie war dort wie ein Rockstar“, erinnert sich Stefan. Heute lacht sie darüber: „Manchmal muss man weit weg von zu Hause sein, um über sich hinauszuwachsen.“ Ganz selten fielen die beiden auf, weil sie Hilfe brauchten. In Kolumbien platzte der Kühlerschlauch. „Um die Ecke war ein Laden, in dem wir Hilfe suchten. Als wir raus kamen, sahen wir ein paar Männer, die unter der offenen Motorhaube werkelten. Aus der Ferne überkam uns das mulmige Gefühl, dass sie etwas kaputt machen“, erzählt Stefan. Ein Gedanke, der die beiden bis heute verändert hat, denn: „Sie wollten uns nur helfen und bauten den Kühlerschlauch aus ihrem eigenen Fahrzeug aus, um unseren Baby-Benz wieder flottzumachen. Sie wollten kein Geld für ihre Hilfe, waren einfach nur dankbar dafür, dass wir ihr Land bereisen.“

Kolumbien: Ihr erstes Weihnachtsfest unterwegs feierten die Globetrotter in der Karibik im Norden des Andenstaates.

Noch weltoffener.

Dieser Moment hat die Abenteurer nachdenklich gemacht und reiste ab sofort mit ihnen. „Wir versuchen seitdem, auch zurück in der Heimat, keine Vorurteile zu haben und noch weltoffener zu sein“, fasst Melanie das Erlebnis zusammen. „Über Kolumbien hatten wir vorher so viel Negatives gehört – und nur Positives erlebt“, sagt Melanie, die ihre Festanstellung als Reiseverkehrskauffrau kündigte, um die Welt zu sehen. Nun ist das Land so etwas wie ihr Sehnsuchtsort, das Fleckchen Erde, an das sie und Stefan sich am liebsten zurückerinnern.

In Costa Rica in Zentralamerika bekamen sie den größten Schrecken der langen Reise, als mitten in der Nacht plötzlich ein Betrunkener in ihrem Zelt stand. „Zum Glück ist er so erschrocken, dass wir da waren, und sofort abgehauen. Wir sind in den Jahren mehrmals ausgeraubt worden, waren aber nie anwesend“, erzählt Melanie. „Das einzig Gute daran war, dass das Auto wieder leer war und wir bei null beginnen konnten“, sagt sie und lacht. „Wir hatten eh zu viel dabei.“

Eine Weltreise ist kein Urlaub.

Unvergesslich war der Aufenthalt in Chile. Sie stellten sich einen Wecker, um noch vor Sonnenaufgang joggen zu gehen. Zurück im Zelt hatten sie das Gefühl, dass es nicht hell werde. Selbst um neun Uhr morgens war es noch stockdunkel. „Also sind wir wieder rausgegangen und haben gemerkt, dass unser Zelt und das Auto total dreckig waren“, erzählt Stefan. Ein 300 Kilometer entfernter Vulkan war ausgebrochen, hatte alles mit einer dicken Ascheschicht bedeckt. Also änderten sie ihre Pläne für diesen Tag und putzten. „Die Asche war in jeder noch so kleinen Ritze“, sagt Melanie, die das Camperleben längst ins Herz geschlossen hatte. „Auf einer Weltreise mit Zelt dauert einfach alles viel länger als in der eigenen Wohnung: kochen, Wasser holen, es fürs Duschen erwärmen, putzen, aufräumen. Eine Weltreise ist kein Urlaub! Im Urlaub hat man keinen Alltag, bei einer langen Reise schon.“ Stefan wünschte sich oft gutes Brot, Melanie vermisste die Jahreszeiten: „Vor allem Ostern und Krokusse im Frühling. Was uns nicht eine Sekunde fehlte, war das Fernsehen.“

Patagonien: Der Perito-Moreno-Gletscher trägt den Spitznamen „Achtes Weltwunder“.

Schwindelfrei: Unvergessen ist für die Abenteurer das Dadestal im Atlasgebirge. Der Weg über die Serpentinen der R704 umgeht die Dadesschlucht.

Ruhe und Einsamkeit.

Als die beiden Alaska durchquerten, sehnten sie sich plötzlich nach Zivilisation. „Das ist total komisch, wenn du auf einmal das erreicht hast, was du immer wolltest, Ruhe und Einsamkeit, dann fehlen dir Menschen. Am Ende der Welt sehnst du dich nach dem Trubel, dem du vorher so gerne entflohen bist.“ Sie lachen über das Paradoxon, während sie durch ihre Fotoalben blättern. Sie schwärmen vom Altaigebirge, von den Anden, vom Dschungel und vom Punta Olímpica in Peru, dem auf 4 738 Meter gebauten höchsten Tunnel der Welt: „Dort wird die Luft im wahrsten Sinne dünn“, sagen beide unisono. 

Unvergessliche Begegnungen.

Neues Album, wieder unendliche Weiten. „In der Mongolei schien es so ruhig wie in Alaska, dort gab es über lange Strecken nicht einmal die Anzeichen einer Zivilisation wie zum Beispiel Stromkabel“, sagt Melanie. In Alaska sind sie mit dem W 201 durch einen Fluss gefahren, zum zweiten Mal in der Mongolei. Weiter ging es nach China. Sie zeigen ein Foto von ihrer Begleiterin. Camping-Reisen sind in der Volksrepublik nur mit Begleitung gestattet, deshalb engagierten sie eine Einheimische mit Ortskenntnissen als Guide. Sie fanden heiße Quellen im Nirgendwo, campten an der Chinesischen Mauer, cruisten durch viele glitzernde Metropolen.

Ein paar Seiten weiter lächelt ein junges Pärchen in die Kamera. 

Längst sind die vier Freunde, die Geschichte beginnt allerdings ein paar Jahre zuvor: 2015 lernen sie sich auf einem Segelschiff nach Panama kennen, vier Monate später laufen sie sich in Guatemala über den Weg. Vier Jahre später, 2019, treffen sie sich zufällig in einem Supermarkt in Thailand. „Wären wir nur eine Minute später einkaufen gegangen, hätten wir uns verpasst“, sagt Melanie. „Wir haben das Reisemagie genannt. Es sind die Begegnungen mit Menschen, die die Länder unvergesslich machen.“ Stefan erinnert sich an Florida: „Über Facebook schrieb uns ein gebürtiger Ungar, ob wir Lust hätten, morgen mit ihm und seiner Familie Gulasch zu essen.“ Über den Hinweis „5c100c“ auf dem Auto hat er sie in den sozialen Medien ausfindig gemacht. Also trafen sie sich zum Gulasch. Am nächsten Tag fuhren sie gemeinsam Jetski und sahen erstmals einen Delfin. Unvergesslich.

Yellowstone-Nationalpark: Melanie und Stefan kamen den gewaltigen Büffeln ziemlich nahe.

Kein Mensch weit und breit.

Apropos unvergesslich, Melanie zeigt ein Drohnenfoto aus Malaysia. Das Zelt steht an einer Düne, den Strand vor Augen, kein Mensch weit und breit. „Am Morgen waren schaufelartige Spuren vom Meer bis kurz vor unser Zelt zu sehen. Eine Schildkröte hatte ihre Eier nur wenige Meter von uns im Sand verbuddelt. Gemeinsam mit den Helfern einer Tierschutzorganisation durften wir später die frisch geschlüpften Babyschildkröten zum Wasser begleiten.“

Ein neuer alter 190 D.

Der 190 D hat mittlerweile mehr als 500 000 Kilometer auf dem Tacho. Melanie und Stefan möchten ihn für einen guten Zweck versteigern, das Geld soll Kindern zugutekommen. „Wir haben Unterschriften von Menschen aus fünf Kontinenten und bestimmt auch den Weltrekord mit der längsten Anhängerfahrt“, ist sich Stefan sicher.

Im Hof parkt ein neuer alter 190 D, den sie sich nach der Weltreise kauften. Mit ihm waren sie im vergangenen Herbst in Italien. Von dort brachten sie keine Unterschriften, sondern einen Hund mit: Django. Die nächste Reise wird also eher ein Ankommen zu dritt, der Name dafür steht bereits: 6/6. „Wir möchten während des europäischen Winters für sechs Monate in die Sonne und dann für sechs Monate wieder zurück“, sagt Stefan. Zum Beispiel in die Karibik, auf die San-Blas-Inseln vielleicht, dort lebte er früher schon für ein Jahr. „Wir haben die Welt vom Auto aus gesehen, jetzt würden wir gerne die Karibik erkunden. Zu Fuß.“

Die Anden: Auf dem Weg zu einer heißen Quelle auf weit mehr als 4 000 Metern Höhe.