Mitten im Urwald.

An eine Weiterfahrt ist nicht zu denken, die Regenzeit soll noch etwa einen Monat andauern. Die Freunde stellen ihren treuen Reisebegleiter der vergangenen sieben Monate ab und entscheiden sich für eine mehrwöchige Rucksacktour durch den Amazonas. Sie dürfen zwei Brüder indigener Abstammung begleiten, beim Krokodilsuchen, Spurenlesen, Selbstversorgen. Mitten im Urwald herrscht Vorsicht – und vor allem Funkstille. Als Kevin und Lars den peruanischen Dschungel verlassen und die Nichterreichbarkeit ein Ende hat, erfahren sie, dass sich das Coronavirus zur Pandemie ausgebreitet hat. Ihr Mercedes-Benz 300 TE (S 124) steht sechs Flusstage stromaufwärts entfernt in Pozuzo. 

Ein Wasserfall im peruanischen Dschungel.

Die allseits bekannte „Death Road“ in Bolivien war ein Witz im Vergleich zu den schmalen Bergstraßen Perus.

Offroad-Abenteuer.

Das knapp 1.200 Einwohner zählende Dorf ist die einzige österreichisch-deutsche Kolonie der Welt. So steht es zumindest am Ortseingang. Ein ziemliches Offroad-Abenteuer, denn es führt nur eine unbefestigte Straße entlang steiler Abhänge, die in der Regenzeit ständig von heruntergerutschtem Schlamm befreit werden muss. „Dort, östlich der Anden, ließen wir vor dem Trip in den Dschungel unsere Kameraausrüstung, Laptops und viele weitere persönliche Gegenstände zurück“, erzählt Kevin. Und dabei wird es auch erst einmal bleiben. Für die Freunde aus Stuttgart gibt es jetzt nur noch eine Möglichkeit: In die Hauptstadt Lima fliegen, sich dort zwei Wochen in Quarantäne begeben und dann mit einem britischen Evakuierungsflug über London nach Frankfurt am Main fliegen. Ein Ende mit Schrecken bei der Hälfte der Reise. Etwas mehr als ein Jahr danach kehren die beiden zurück, aber dazu später mehr.

Das längste Straßennetz der Welt.

Kevin hat vor der Reise eine Ausbildung bei einem deutschen Reiseveranstalter gemacht. In der Mittagspause ist er gerne spazieren gegangen, sein Weg führte ihn täglich an einer Werkstatt vorbei. „Eines Tages stand dort ein alter Mercedes-Benz mit 154.000 Kilometern auf dem Tacho im weißesten Weiß, das ich jemals gesehen habe“, sagt Kevin. Der heute 26-Jährige wollte dieses Modell mit Sechszylinder-Reihenmotor und 180 PS (132 kW) unbedingt – genauso wie viele andere Interessenten. Besessen hat ihn eine ältere Dame, der Kevin von seiner Panamericana-Idee erzählt. Um sein Vorhaben mit Fakten zu untermauern, zeigt er ihr Fotos von einem Roadtrip durch Kanada mit einer alten E-Klasse – und überzeugt sie. Damals, 2015, reiste er mit seinen Brüdern und seinem Vater quer durchs Land. 

„Die Langlebigkeit von Mercedes-Benz hat mich schon immer begeistert. Außerdem liebe ich die Marke und finde, dass die alten Modelle auch heute noch echt cool aussehen“, erzählt Kevin. Sein Kumpel, mit dem er seit der Grundschulzeit befreundet ist, sagt sofort Ja, als er ihm eine Reise über das längste Straßennetz der Welt vorschlägt. Lars kündigt sein WG-Zimmer und die Festanstellung für das Abenteuer – heute studiert der 25-Jährige Wirtschaftsingenieurwesen in Reutlingen. „Wir wohnen einen Kilometer Luftlinie entfernt voneinander und hatten schon immer dieselben Interessen und Hobbys: Sport und Reisen“, verrät Kevin. „Unsere Eltern sind auch befreundet. Wir sind, würde ich doch behaupten, zwei ganz normale junge Männer“, sagt Lars und die beiden lachen. Wie Freunde das so tun.

An der Atlantikküste in Patagonien war es besonders windig. Das Dachzelt richteten Kevin und Lars immer nach dem Wind aus.

Wohnung im Innenraum.

Gemeinsam bauen sie den 300 TE aus dem Jahr 1991 zum Camper aus. Im Fond entfernen sie die Rückbank und legen eine Holzplatte auf die Fläche. Darauf entwickeln sie ein Schubladensystem mit einer zweiten Ebene für Werkzeug, Ersatzteile und Ersatzreifen. Zum Schlafen steigen sie in ihr 1,30 Meter breites Dachzelt, gekocht wird am großen Kofferraum. Persönliche Gegenstände finden in Aluboxen ihren Platz. Bei allem, was sie umbauen, gilt stets das Schnellzugriffsmotto: „Wir haben eine komplette Wohnung im Innenraum eines Fahrzeugs nachgebildet. Dinge, die wir täglich brauchen, sind stets griffbereit, weniger wichtige Gegenstände wie Wanderstöcke jedoch nicht“, erklärt Kevin. Kurze Zeit später, im August 2019, brechen sie auf Richtung Hamburger Hafen. Dort fahren sie auf ein Frachtschiff – und schippern gemeinsam mit zehn anderen Langzeitreisenden und 30 Crew-Mitgliedern fünf Wochen lang nach Montevideo in Uruguay.

Einer der höchsten bekannten Pässe.

„Fliegen wäre günstiger gewesen, aber wir wollten unbedingt bei unserem Auto bleiben“, sagt Kevin. Die lange Anreise nutzen sie, um Sport auf dem Deck zu machen, im Kraftraum Gewichte zu stemmen, offline zu sein und vor allem, um Spanisch zu lernen. Kevins Mutter kommt aus Brasilien, Lars’ Mutter ist Finnin, sein Vater Halbfinne. Fremdsprachen sind für die Schulfreunde wichtig. Sieben Monate später werden sie sich einig sein: „Die Panamericana hat nicht nur unseren Horizont erweitert, sondern uns auch eine weitere Sprache gelehrt.“ In den folgenden Wochen reisen die Mittzwanziger von Uruguay durch Patagonien ins argentinische Ushuaia, eine der südlichsten Städte der Welt. Dort starten sie ihre Panamericana-Tour entlang der Anden durch das im Süden wenig besiedelte Chile. Weiter zieht es sie über die nördlichen Provinzen Argentiniens nach Peru. In den Anden fahren sie von null auf 4.700 Höhenmeter, bezwingen mit dem T-Modell einen der höchsten bekannten Pässe.

Kevin (links) und Lars posieren auf 3.500 Metern Höhe in der Nähe der Ruinenstadt Choquequirao im Süden Perus.

Für das 30 Jahre alte T-Modell ist keine Brücke zu schmal, keine Straße zu schlecht – es meistert einfach alles.

Freundschaft.

„Unser Auto hatte immer Kraft, wir konnten jederzeit andere Fahrzeuge überholen“, erzählt Kevin. Besonders beeindruckt sind die beiden auch von Argentinien. „Wir haben dort so viele Leute kennengelernt, die ohne materiellen Wohlstand total glücklich waren. Einfach nur, weil sie mit ihrer Familie zusammenleben“, sagt Lars und zeigt Fotos von einer Großfamilie auf Pferden, mit denen sie gemeinsam in der kargen Steppe Rast machten. Es dauert nur wenige Tage, bis sie bei der Wahl eines Schlafplatzes und dem Aufbau Routine entwickelt haben. „Niemals im Dunkeln ankommen“, sind sie sich einig. Und: „Alles, was länger als drei Minuten dauert, geht einem auf die Nerven“, sagt Kevin und zeigt ein Foto der Markise, deren Aufbau die beiden nervös machte. Bei einer so langen Reise lerne man sich und die Marotten des anderen noch intensiver kennen, erzählen die Baden-Württemberger, die sich beim Fahren regelmäßig abwechselten. Nur beim Schlafrhythmus sei man sich nicht so einig gewesen, aber auch das steckt ihre Freundschaft locker weg.

Ein Wiedersehen.

Es ist Mai 2021, die Niederschläge verwandeln den Regenwald im Osten Perus in ein tropisch-schwüles Feuchtgebiet. An der Küste ist es trocken. Kevin und Lars sind in Lima gelandet, mieten ein Auto und machen sich auf den Weg zu ihrem Mercedes-Benz.

„Wir hatten einen großen Kulturschock. Bei unserer ersten Reise waren wir bereits viele Monate unterwegs, dieses Mal sind wir geflogen“, erzählt Kevin. „Wir haben humpelnde Hunde gesehen, noch mehr Kinder, die Kaugummis auf der Straße verkauften“, sagt Lars und versucht, die Stimmung in Worte zu fassen. 

Die Präsidentschaftswahlen standen kurz bevor, die Pandemie hat zu einer Wirtschaftskrise geführt und es gab kaum Touristen. Von der Hauptstadt am Südpazifik fahren sie knapp 500 Kilometer nach Nordosten in die Kolonie am Rande des Amazonas. Auf 750 Metern liegt Pozuzo, das Dorf mit Holzhäusern im Alpenstil. Im Jahr 1857 hatten sich Rheinländer und Tiroler auf den Weg nach Peru gemacht, um beim Siedlungsausbau zu helfen. Noch heute leben viele Nachkommen der Auswanderer dort, sprechen Deutsch und servieren Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat. Bei Dorffesten tragen sie Dirndl und Lederhose.

Erleichtert lächeln Lars (links) und Kevin in die Kamera. Mehr als ein Jahr hat es gedauert, bis sie wieder nach Peru reisten.

Dort weitermachen, wo sie aufgehört haben.

Angekommen bei Pensionswirt Hans, der den „Benz“ im vergangenen Jahr beherbergt hat, fällt eine Last von ihnen ab. Der Reisebegleiter steht unter einem Carport, eingerahmt von Blumentöpfen und Kletterpflanzen. Eine feine rote Sandschicht hat sich wie ein Schleier auf den weißen Lack gelegt. Kevin und Lars füllen ihre leeren Koffer mit den Gegenständen, die sie damals zurücklassen mussten. Die zweite Hälfte der Panamericana wartet auf sie, aber nicht jetzt, die Tage reichen gerade aus, um mit dem S 124 eine kleine Runde zu drehen. „Demnächst fliegt mein Vater vielleicht nach Peru, bringt das Auto nach Kolumbien, verschifft es dann nach Panama und fährt es anschließend zu Freunden in die USA“, verrät Kevin. Dort wird es erst einmal bleiben und die Jungs bei Urlauben in den Staaten begleiten. Von der Panamericana träumen sie noch immer. Eines Tages werden Kevin und Lars sie zu Ende fahren, genau dort weitermachen, wo sie aufgehört haben.