Erhöhte Sicherheit und Komfort.

Vor rund 30 Jahren bringt Mercedes-Benz zahlreiche Digitalsysteme und vor allem deren Vernetzung in Serienfahrzeuge. Alles zusammen erhöht die Sicherheit und den Komfort – und öffnet die Tür zu einer neuen Denkweise: dass Elektronik klassische Automobiltechnik perfekt ergänzt und damit ein Innovationsbeschleuniger ist.

Ein fulminanter Vorbote ist das Forschungsfahrzeug F 100, heute im Mercedes-Benz Museum zu sehen. Das Unternehmen stellt es 1991 der staunenden Weltöffentlichkeit vor: Unter anderem mit Zentralbildschirm hinter dem Lenkrad, Abstandsregeltempomat, Telefonspracherkennung, KEYLESS-GO, Totwinkel-Assistent, automatischer Spurhaltung und Rückfahrkamera wirkt der F 100 wie Science-Fiction auf Rädern. „Science Reality“ wäre treffender. Die Zukunft steht vor der Tür. Denn kurze Zeit später zündet Mercedes-Benz ein wahres Weltpremierenfeuerwerk digitaler Systeme.

Technik begeistert ihn noch immer jeden Tag. Er erkannte frühzeitig die Möglichkeiten der Elektronik und trieb ihren Einsatz im Automobil auf allen Gebieten voran: Professor Hermann Gaus.

Das Notrufsystem TELEAID und das Sprachbediensystem LINGUATRONIC waren Meilensteine – die in heutigen Folgesystemen noch viel ausgefeilter funktionieren.

Aufbruchstimmung in der Elektronik.

„Das war eine sehr herausfordernde und spannende Zeit für mich“, erinnert sich Professor Hermann Gaus, 86. Der Maschinenbauingenieur ist damals  Direktor in der Pkw-Konstruktion und unter anderem verantwortlich für Elektrik/Elektronik (E/E). Was ihn besonders beeindruckt hat? „Die Aufbruchstimmung im Bereich der Elektronik. Sie eröffnete so viele Möglichkeiten. Geprüft haben wir nahezu alle. Nicht jedes System kam dann in die Serie, aber viele – und jedes mit Bedacht. Denn Ziel war, das Auto noch besser zu machen.“

Ein kurzer Exkurs. In der Elektronik gibt es analoge und digitale Signale – stufenlos die einen, aus Einzelwerten bestehend die anderen. Weil kleine Signalnuancen in der Digitaltechnik keine Rolle spielen, lassen sich die Werte einfacher und präziser verarbeiten. Den perfekt ergänzenden Technologiesprung bringen dann ab Anfang der 1970er-Jahre die Mikroprozessoren: Die Chips bieten auf kleinstem Raum enorme Rechenleistung. Nebeneffekt: Computer werden mobil – heute längst selbstverständlich in allen Lebensbereichen.

„Wir brauchen die Vernetzung.“

Zurück ins Auto. Welches sind die frühen Meilensteine der Digitaltechnik? „Das Antiblockiersystem ABS war 1978 das erste digitale Assistenzsystem“, antwortet Gaus. „1985 legten wir mit dem automatischen Sperrdifferenzial ASD, der Antriebsschlupfregelung ASR und dem Allradantrieb 4MATIC nach. 1989 kam der SL der Baureihe R 129 mit einer Vielzahl weiterer elektronischer Systeme inklusive des automatischen Überrollbügels“, zählt Gaus flott auf. Seine Begeisterung für das damals Geschaffte ist deutlich erkennbar. „Uns war jedoch klar: Wir brauchen die Vernetzung über sogenannte Bus-Systeme, damit die einzelnen Steuergeräte miteinander kommunizieren können.“

Das Premierenfahrzeug für den CAN-Bus war 1990 der 500 E der Baureihe 124 als erste komplette Modellreihe mit dieser Technologie. Diese Baureihe bot im Lauf ihrer Produktionszeit noch weitere Innovationen, etwa das Elektronische Stabilitätsprogramm ESP, den Bremsassistenten BAS, die elektronische Einparkhilfe PARKTRONIC, die Navigation mit dem Auto-Pilot-System APS, das Sprachbediensystem LINGUATRONIC und das Notrufsystem TELEAID. Damals alles wegweisend – heute noch ausgefeilter und nicht mehr wegzudenken. 

Wie groß die technischen Herausforderungen bei den Anfängen vor 50 Jahren sind, illustriert das Beispiel ABS: Schon 1972 stellt Mercedes-Benz nach intensivster Entwicklung von Sensoren und Steuerungen eine erste Version des Antiblockiersystems vor. Sie basiert auf analoger Elektronik – der verfügbare Technikstand. Doch das System bietet nicht die volle Fahrzeugkontrolle. Die aber ist erklärtes Entwicklungsziel, damit ein Auto auf rutschigem Untergrund bei einer Vollbremsung lenkbar bleibt. 

Die Ingenieure beginnen von vorn, bauen das ABS neu auf, diesmal mithilfe der brandneuen digitalen Mikroprozessoren. Der lange Atem des Unternehmens trägt Früchte: Das 1978 eingeführte Antiblockiersystem arbeitet absolut überzeugend. Und wird zum Branchenstandard, wie später auch andere Systeme von Mercedes-Benz.

Fast atemlos setzt sich die Erfolgsgeschichte fort. „Die 1998 vorgestellte S-Klasse der Baureihe 220 war der nächste große Sprung“, schildert Gaus und seine Augen leuchten wieder. „Diese S-Klasse ergänzte die lange Liste unserer Elektronikinnovationen um weitere wichtige Technologien. So ist sie der erste Mercedes-Benz mit, unter anderem, Kombiinstrument inklusive Zentraldisplay, Bedien- und Anzeigesystem COMAND, Abstandsregeltempomat DISTRONIC und KEYLESS-GO statt Autoschlüssel. Außerdem hat sie die bisher leistungsfähigste Vernetzung der einzelnen Komponenten. Mit dieser S-Klasse waren wir endgültig in der neuen Zeit angekommen.“ Für das neue Flaggschiff der Marke spornt Gaus sein Team zu Höchstleistung an. Seine Mitarbeiter erleben ihn als begeisterten, aber auch kritischen Elektronikfan: Bei der Entwicklung der Baureihe 220 erhalten sie montags Listen mit abzuarbeitenden Fehlerpunkten, auf die Gaus bei Erprobungsfahrten am Wochenende gestoßen ist. Die Mühe lohnt sich. Die Baureihe 220 ist ihrer Zeit vor allem beim Navigationssystem, bei LINGUA­TRONIC und DISTRONIC voraus und setzt Maßstäbe für ein modernes Innovationsmanagement in der Serienentwicklung.

Im Forschungsfahrzeug F 100 wurde 1991 Elektronik in allen Spielarten verbaut. Es präsentierte unter anderem KEYLESS-GO und die Chipkarte statt Autoschlüssel.

»Mich haben Elektronische Steuerungen schon immer fasziniert.«

Mit Blick auf das aktuelle Infotainment-System MBUX sagt er: „Meine Vision einer umfassenden Sprachbedienung ist heute mehr als erfüllt.“ Auch das erste Navigationssystem ist nicht einfach vom satellitenbestückten Himmel gefallen, sondern das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Gaus trieb die Entwicklung voran, war viel unterwegs, sprach mit Start-up-Unternehmen und etablierten Zulieferern. 

Immer wieder galt es, Schlüsselstellen zu überwinden: „GPS-Sensoren hatten wir zunächst nicht. Doch sie waren notwendig, um eine alltagstaugliche Genauigkeit bei der Positionsbestimmung zu haben. Als es die Sensoren dann gab, waren sie zunächst immens teuer, kosteten mehr als 1 000 Mark“, berichtet Gaus. „Bei der Einführung solcher Innovationen half stets die S-Klasse, weil deren Kundschaft bereit war, das Geld auszugeben. Aber natürlich nur, wenn der Nutzen erkennbar war.“

Erheblicher Fortschritt.

Der Experte hat ein Fachmagazin zur Technik der Baureihe 220 zum Interviewtermin mitgebracht und schlägt gezielt ein Schaubild auf. Die 220er haben mehrere Netzwerke und serielle Verbindungen: Die wichtigste Neuerung war der optische D2B-Bus mit Lichtleitern für die Kommunikationssysteme. Die Netzwerke arbeiten nicht voneinander abgeschirmt, sondern kommunizieren über sogenannte Gateways miteinander: Übergreifende Funktionen werden möglich.

 „Mit der Vernetzung können Sensorsignale mehrfach verwendet werden und alle Steuergeräte miteinander kommunizieren. Das brachte einen erheblichen Fortschritt“, erläutert der frühere Chefentwickler, der bis heute einen wachen Blick auf aktuelle Technik hat. „So dient etwa der Radarsensor der DIS­TRONIC nicht nur der Abstandsregelung, sondern mittlerweile auch der automatischen Notbremsung vor einem Hindernis. Ohne Digitaltechnik und Datennetze im Fahrzeug, die den klassischen Kabelbaum ergänzen, wäre das nicht möglich.“

Auf dem Weg zu noch mehr Komfort und Sicherheit mithilfe der Elektronik begegnen den Ingenieuren zahlreiche Herausforderungen. Ein Beispiel: „Die Sprachsteuerung des Autotelefons war mir ein wichtiges Anliegen, um die Sicherheit zu erhöhen. Wir waren Vorreiter auf dem Gebiet. Unser Prototyp in den 1990er-Jahren funktionierte auch perfekt – aber nur mit Männerstimmen, wie wir bald merkten“, schildert Gaus und muss heute noch darüber schmunzeln. „Frauenstimmen haben ein anderes Frequenzspektrum. Natürlich haben wir das System entsprechend angepasst und konnten eine viel beachtete Premiere der LINGUATRONIC feiern. Leistungsfähigere Computer verbesserten dann die Spracheingabe erheblich.“

Begeisterung für Elektronik.

Wie er als Maschinenbauingenieur in Kontakt mit Elektronik kam? „Mich haben Steuerungen schon immer fasziniert. Schon in den 1960er-Jahren, als ich sie auf hydraulischer Basis für Automatikgetriebe entworfen habe“, sagt Gaus. „Die Elektronik eröffnete neue Möglichkeiten. Das hat mich als Techniker neugierig gemacht: Ich will immer verstehen, wie etwas funktioniert, welche technischen Möglichkeiten sich eröffnen. Also bin ich tiefer eingestiegen und habe elektronische Steuerungen entworfen. Als dann die Computertechnik aufkam, habe ich mich damit beschäftigt und auch aus eigenem Antrieb das Programmieren gelernt. Einfach weil ich wissen wollte, wie es geht.“

Gut 40 Jahre steht der Diplom-Ingenieur im Dienst des Unternehmens und betreut zahllose spannende Projekte, bringt in dieser so dynamischen Entwicklungsgeschichte mit seinen Kompetenzen und Tätigkeiten das Automobil weiter voran. Zuletzt mit dem Maybach (Baureihe 240), der 2002 vorgestellt wird. „Eigentlich wollte ich 1999 nach der Premiere des CL-Klasse Coupés der Baureihe C 215 in den Ruhestand gehen. Aber als Professor Hubbert mir die Projekt- und Entwicklungsleitung des Maybach anbot, konnte ich nicht Nein sagen.“ 

Sein Wissensdurst ist ungestillt, das zeigt auch ein Blick in seine Garage. Dort steht die aktuelle E-Klasse. „Mit allen Systemen, die verfügbar sind“, sagt Gaus. „So statte ich meine Autos immer aus, denn ich will stets die neueste Technik kennenlernen. Und unsere Automobiltechnik begeistert mich bis heute.“

Professor Hermann Gaus.

1962 tritt er in die Daimler-Benz AG ein. Nach Stationen in der Automatikgetriebeentwicklung wird er 1982 Fachbereichsleiter in der Pkw-Konstruktion und unter anderem verantwortlich für Elektrik/Elektronik, 1988 Direktor Gesamtfahrzeug im Bereich Konstruktion und Versuch sowie 1994 Entwicklungsverantwortlicher für die E-Klasse und S-Klasse. Ab 1998 krönt die Tätigkeit als Projekt- und Entwicklungsleiter des damaligen Maybach seine Laufbahn. 2003 geht Gaus in den Ruhestand. Er habe in allen Tätigkeiten gestalten wollen, sagt er rückblickend, wofür Technik und Team Hand in Hand gehen müssen: „Ich möchte keinen Tag missen. Mein Herz schlägt immer noch für Mercedes-Benz.“