21,5 Liter Hubraum, eine Höchstgeschwindigkeit von über 200 km/h, eine strömungsgünstige Karosserie. Und das schon 1909: Der Blitzen-Benz – Werksbezeichnung Benz 200 PS – zählt zu den faszinierendsten Schöpfungen der frühen Mercedes-Benz Geschichte. Entwickelt wird er unter der Leitung von Victor Hémery, einem erfolgreichen französischen Rennfahrer, der seit 1907 bei Benz & Cie. in Mannheim unter Vertrag steht.
Carl Benz selbst ist gegen das Projekt. Er vertritt die Meinung, dass Rennen keinen Erfahrungsgewinn für den Bau von Serienautomobilen bringen. Ganz anders denkt Julius Ganß, Vorstandsmitglied von Benz & Cie. Er verspricht sich von dem geplanten Rekordwagen vor allem eins: Publicity.
Denn er soll schneller sein als jedes andere Fahr- und Flugzeug seiner Zeit, Motorboote und die Eisenbahn eingeschlossen. Als technische Basis dient der Benz 150 PS Rennwagen von 1908. Das Ziel: über 200 km/h Höchstgeschwindigkeit. Durch eine Vergrößerung der Bohrung auf 185 Millimeter wird der Hubraum des Rennwagen-Vierzylinders von 15,1 auf sage und schreibe 21,5 Liter erhöht. Dieser Rekordwert ist bis heute unübertroffen: Kein Renn- oder Rekordwagen von Mercedes-Benz war je hubraumstärker. Bis zu 147 kW (200 PS) bei 1600/min leistet der Motor. Der riesige Reihenvierzylinder wiegt 407 Kilogramm, das ganze Auto 1450 Kilogramm. Die Übertragung der gewaltigen Kraft erfolgt über ein Vierganggetriebe via Zwischenwelle und Kette auf die Hinterachse.
Bei den ersten Einsätzen 1909 sitzt der Motor noch in der Karosserie des Benz Grand-Prix-Wagens von 1908. Seinen ersten Start erlebt der neue 200 PS-Wagen am 17. Oktober 1909 bei einem Sprintrennen in Brüssel, wo er prompt gewinnt. Das erklärte Ziel ist allerdings das Durchbrechen der 200 km/h-Marke.
Unter dem infernalischen Donnern des Vierzylinders erreicht er über den Kilometer ein Tempo von 202,648 km/h. Die halbe Meile durchrast er mit 205,666 km/h, jeweils mit fliegendem Start. Die magische Grenze von 200 km/h für ein Automobil mit Verbrennungsmotor ist übertroffen.
Deshalb startet Victor Hémery am 8. November 1909 auf dem Hochgeschwindigkeitskurs von Brooklands in England.
Jetzt gilt es, Amerika zu erobern, denn ein gewisser Fred Marriott hat 1906 in Daytona Beach mit einem Dampfwagen der Marke Stanley Steamer 205 km/h geschafft. Im Januar 1910 wird der Benz-Rekordwagen über den großen Teich geschickt.
Zielpunkt ist New York, wo der Benz-Importeur Jesse Froehlich sein Geschäft betreibt. Von der Ankunft dort bekommt auch der Veranstaltungsmanager Ernie Moross Wind – und handelt ein Tauschgeschäft aus: Er überlässt Froehlich seinen 150 PS Grand-Prix-Wagen, blättert weitere 6000 Dollar auf den Ladentisch und erhält dafür den Rekordwagen. Und weil in diesem Fall Namen tatsächlich Schall und Rauch sind, tauft Moross den Wagen zunächst „Lightning Benz“, weil er schnell ist wie der Blitz.
Der für US-Amerikaner noch martialischer klingende deutsche Name „Blitzen-Benz“ wird wenig später verwendet. Auch ein Reichsadler wird auf die Motorhaube lackiert. Noch ohne diese Verzierungen tritt der Benz am 16./17. März am Strand von Daytona zur Rekordjagd an. Fahrer ist der Draufgänger Barney Oldfield, der die neue Bestmarke von 211,4 km/h schafft. Sie wird jedoch nicht anerkannt, weil das damals gültige Reglement nicht eingehalten wird.
Das ist ein neuer Landgeschwindigkeitsrekord, der bis 1919 Bestand haben wird. Danach tingelt der Blitzen-Benz als Show-Attraktion durch die USA.
Erst 1911 versucht Moross wieder sein Glück, diesmal allerdings mit dem früheren Buick-Werksfahrer Bob Burman hinter dem Lenkrad des Blitzen-Benz. Burman rast am 23. April über den Sandstrand von Daytona Beach und erzielt über die Meile mit fliegendem Start ein Durchschnittstempo von 228,1 km/h, über den Kilometer mit fliegendem Start sind es 226,7 km/h.
1913 wird der legendäre Rekordwagen nach einer Reglementänderung ausgemustert. Seine Spur lässt sich noch bis 1923 verfolgen. In jenem Jahr wird er zerlegt, und die Teile werden für ein anderes Rennwagen-Projekt verwendet. Insgesamt entstehen sechs Benz 200 PS, zum Teil mit der Blitzen-Benz-Karosserie, zum Teil mit anderen Aufbauten. Heute gibt es drei: das Exemplar Nummer 6 mit verlängertem Chassis und Tourerkarosserie gehört einem amerikanischen Sammler. Jenes des Mercedes-Benz Museums wird 1935 aus noch vorhandenen Teilen rekonstruiert und 2004 restauriert.
Und dann gibt es noch das Auto von Bill Evans, seines Zeichens kalifornischer Hotelmagnat und Automobilsammler. Er entschließt sich, ohne Rücksicht auf die Kosten einen weiteren Blitzen-Benz bauen zu lassen. Für sein Projekt stellt ihm das Mercedes-Benz Museum den eigenen Wagen als Vorlage zur Verfügung.
Dann kommt er ins Schwärmen: „Aufgrund des enormen Drehmoments wird man regelrecht in den Sitz gepresst. Selbst die Augäpfel vibrieren beim Fahren, weil das Auto den Fahrer extrem durchschüttelt.“
Außerdem darf Evans die noch bei Mercedes-Benz Classic vorhandenen Teile des Benz 200 PS mit der Seriennummer 3 verwenden, der einst den Spitznamen „Magerer Josef“ trug – zum Beispiel den Originalmotor mit der Nummer 9141.
„Jeder Auto-Enthusiast kennt den Blitzen-Benz, aber kaum einer hat ihn je gesehen. Deshalb wollte ich ihn wieder auferstehen lassen“, schildert Bill Evans seine Beweggründe. „Ich war schon als Junge von diesem Auto fasziniert. Für mich ist mit der Rekonstruktion ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen“, fährt der Sammler fort.