Planung, spottete Albert Einstein, ersetzt Zufall durch Irrtum. Auf diesen Aspekt ließe sich die komplette Geschichte des Rennsports eindampfen: ein ewiges Katz-und- Maus-Spiel zwischen den Ingenieuren und den Bewahrern der Regeln. Ein schönes Beispiel ist die 750-kg-Formel für Grand-Prix-Rennwagen zwischen 1934 und 1937. Die Motorsport-Legislative AIACR (für Association Internationale des Automobile Clubs Reconnus) verfolgt damit zwei Ziele. In das wild wuchernde Dickicht der bestehenden Regularien soll eine klar und simpel definierte Schneise gehauen werden. Und: Die überbordenden Geschwindigkeiten etwa der Doppelmotor- Boliden von Alfa Romeo, Bugatti und Maserati geben Anlass zur Sorge.
Monaco, 08.08.1937: Doppelsieg durch von Brauchitsch und Caracciola beim Großen Preis auf dem Stadtkurs.
Pescara, 15.08.1934: Luigi Fagioli gewinnt im W 25 die Coppa Acerbo auf dem Dreieckskurs.
Das leichtere Auto, denkt man dort, sei auch das langsamere. In diesem Punkt irrt die Behörde. Da lediglich das Fahrzeuggewicht vorgeschrieben ist, steht einer Eskalation des Hubraums und damit der Leistung nichts im Wege. Aus dieser großen Freiheit schmieden die Männer bei Daimler-Benz ein heißes Eisen. Der W 25, ihre erste Antwort auf die neue Formel, mobilisiert anfänglich 354 PS aus 3 360 cm³ seines per Kompressor aufgeladenen Reihenachtzylinders. Am Ende holt er sich 494 PS aus 4 740 cm³. 140 PS mehr bringen bei den Trainings zu den drei Eifelrennen ab 1934 dem Mercedes Vorzeige-Aristokraten und Nürburgring- Spezialisten Manfred von Brauchitsch eine halbe Minute Vorsprung. Auf das Konto des W 25 gehen in diesem Zeitraum stolze 16 Siege bei Grands Prix und anderen großen Rennen.
Lange knüpft sich an den W 25 die Saga vom Ursprung der Silberpfeile. Noch am Vorabend des Eifelrennens am 3. Juni 1934 seien sie in deutschem Renn-Weiß lackiert gewesen. Beim Wiegen habe man ein Kilogramm Übergewicht festgestellt und kurzerhand die Farbe abschmirgeln lassen, bis 750 Kilogramm und jungfräuliches Silber übrig blieben. Aber die Episode gründet allein auf die Aussage der beiden gewichtigen Mercedes Autoritäten Manfred von Brauchitsch und Rennleiter Alfred Neubauer. Viel später erzählten die beiden diese Geschichte immer wieder und glaubten wohl selbst daran. So blieb sie Teil der Markenfolklore.
Als die Siege des W 25 in der Saison 1936 spärlicher werden, reagiert Mercedes-Benz rasch und hart. Eine autonome Rennfiliale wird ins Leben gerufen und der Versuchsabteilung unter Fritz Nallinger angegliedert. Zugleich dient sie als Gelenk zum eigentlichen Rennteam, in dem Alfred Neubauer das Sagen hat. Chef wird Rudolf Uhlenhaut, ein kompetenter Techniker und Vorgesetzter, mild in der Methode, aber unerbittlich in der Sache. Überdies ist er am Volant der Silberpfeile persönlich zu Weltklassezeiten fähig. „Brausen“ nennt er das in fröhlichem Understatement. Versuchsfahrten am Nürburgring Mitte August 1936 decken gnadenlos die Schwächen des W 25 auf.
Geballte Kraft Chassis mit der Auspuffseite des W 125 Achtzylinders.
Die Lehren daraus, dazu eine Fülle von innovativen Ideen, speisen Uhlenhaut und seine Mannschaft in den W 125 ein. Herzstück ist der bekannte Achtzylinder-Reihenmotor in seiner ultimativen Ausbaustufe, im September 1937 bei 592 PS angelangt. Später werden sogar 646 PS Spitzenleistung erreicht. Gezaubert werden sie aus 5 660 cm³ – wie schon bisher bei 5 800/min. Erstmals beschicken die Vergaser den ihnen nachgeordneten Kompressor mit fertigem Gemisch. Eingebettet ist dieses Modell-Triebwerk in einen rigiden Ovalrohrrahmen mit vier Querträgern. Die Räder hängen vorn an doppelten Querlenkern und Schraubenfedern, hinten an einer De-Dion-Doppelgelenkachse mit längs liegenden Drehstäben und hydraulischen Dämpfern.
Kräftige Impulse gehen dabei von den Serienwagen der Marke aus und strahlen auf diese zurück. Ebenfalls neu und weit in die Zukunft weisend: die wundersame Variabilität, mit welcher sich der W 125 durch bis zu acht mögliche Getriebeübersetzungen und unterschiedliche Spritmischungen auf die jeweils anstehende Rennstrecke einstellen lässt. Der Wagen, bescheinigt ihm Superstar Rudolf Caracciola nach ersten Versuchsfahrten im Frühjahr begeistert, sei „ein Wunder an Leistung und Straßenlage“.
In der Tat: Zwei Dreifach- und drei Doppelsiege unterstreichen die Überlegenheit von Uhlenhauts Konzept. Und am Ende der Saison 1937 darf sich der gelassene Remagener Caracciola mit dem Titel des Europameisters schmücken – zum zweiten Mal nach 1935.
Pescara, 15.08.1938: Rudolf Caracciola gewinnt die Coppa Acerbo und erzielt seinen ersten Saisonsieg.
Mit einem neuen Grand-Prix-Regelwerk für die Jahre 1938 bis 1940 bemüht sich der Motorsport-Gesetzgeber in Paris um Schadensbegrenzung, wieder einmal. Der Hubraum in der Königsklasse wird auf drei Liter mit oder 4,5 Liter ohne Kompressor zurückgeschnitten – bedeutet für Mercedes-Benz: faktisch um die Hälfte.
Die Rennabteilung in Untertürkheim, ohnehin an vielen Projekten beteiligt, entwickelt sich endgültig zur Denkfabrik. Konzepte mit Front- und Heckmotoren mit acht, zwölf und sogar 24 Zylindern werden angedacht und verworfen. Auch zwei Vorschläge von Ferdinand Porsche und ein Motor mit Einspritzung sind im Gespräch. Am Ende fällt die Entscheidung für einen V12, unter Druck gesetzt von zwei Roots-Gebläsen, 1939 abgelöst durch einen Zweistufenkompressor. Zuständig ist der Mitarbeiter Albert Heeß. Er erschafft ein Wunderwerk der Technik im Bankwinkel von 60 Grad mit je zwei obenliegenden Nockenwellen, Vierventilköpfen und einem Zusatzvergaser, der sich bei hohen Drehzahlen einschaltet.
Allerdings entwickelt das Fünf- Zentner-Kraftwerk einen wahren Heißhunger auf Schmierstoff und die komplexe Spritmischung, die ihm als Nahrung zugeführt wird – bis zu 180 Liter auf 100 Kilometer. Seine Leistung wird behutsam von 430 auf 468 PS bei 8 000/min angehoben und zum ersten Mal bei einem Rennwagen der Marke von fünf Gängen an die Hinterachse vermittelt. Das Chassis- Layout entspricht weitgehend dem Vorgänger W 125, mit einem zusätzlichen Satteltank vor dem Cockpit. Der Fahrer sitzt tief in ungemütlicher Nachbarschaft der Kardanwelle links neben ihm, deren Position durch die leichte Schräglage des V12-Motors ermöglicht wird.
Mit einem dritten Platz in Monza holt sich Rudolf Caracciola seine dritte Europameisterschaft. Bei den drei übrigen Rennen des Championats erzielt er einen Sieg und zwei zweite Plätze. Im Training zum Großen Preis von Deutschland 1938 ist Hermann Lang mit 9:54.1 Min. nur zwei Sekunden langsamer als im Jahr zuvor, 1939 bereits neun Sekunden schneller. In der Schweiz wird der letzte Große Preis vor dem Krieg ausgetragen, der dem Motorsport für lange Zeit ein Ende macht.
Handgepäck: Mechaniker der Rennabteilung tragen eine leichtgewichtige Stromlinienkarosserie.
„Vom ersten Tag an hatte ich das untrügliche Gefühl, im perfekten Auto zu sitzen, von dem Fahrer ihr ganzes Leben träumen“, schreibt Juan Manuel Fangio, Mercedes Toplenker in den Jahren 1954 und 1955, später über ihn.
In der Tat ist der W 196 R der König unter den Rennwagen der beginnenden 2,5-Liter-Ära. Neun Siege und schnellste Runden sowie acht Pole Positions in den zwölf Grands Prix, an denen er seit dem GP von Frankreich 1954 teilnimmt, dazu die beiden Championate 1954 und 1955 für den Argentinier Fangio – das schaut schon sehr nach Dominanz aus.
Was ihn so unwiderstehlich macht in einem Umfeld, das visuell von italienischem Renn-Rot dominiert wird: sein leichter und raffiniert komponierter Gitterrohrrahmen. Seine ungewöhnlich-innovative Aufhängung mit Drehstäben und einer Eingelenk-Pendelachse hinten anstatt der überkommenen De-Dion-Architektur. Sein potenter Reihenachtzylinder mit desmodromisch gesteuerten Ventilen und direkter Einspritzung, die in enger Zusammenarbeit mit Partner Bosch entwickelt wurde. Er ist im Winkel von 53 Grad nach rechts in das Rahmen- Fachwerk gelagert (Werksjargon: „Schräger Otto“), um die Stirnfläche klein und den Schwerpunkt niedrig zu halten.
In Reims am 4. Juli 1954 gibt er in attraktiver Vollverkleidung sein Debüt, am Nürburgring vier Wochen und zwei Große Preise später gesellt sich eine wendigere Version mit offenen Rädern hinzu, kurz und eigentlich falsch „Monoposto“ geheißen. Die zwei Karosserie-Varianten können flugs gegeneinander getauscht werden. Bei dem Schlüsselpersonal hinter diesem Erfolgstyp handelt es sich erneut um allerbeste Qualität: Professor Fritz Nallinger als Technischer Direktor, Rudolf Uhlenhaut als Technikchef und Testpilot, Alfred Neubauer als Rennleiter. Allerdings haben sich die Gewichte verlagert: Der „Dicke“, wie Neubauer hinter seinem Rücken genannt wird, dient nur noch als populäre Galionsfigur ohne nennenswerte Entscheidungsbefugnis. Er weiß es nur nicht.
Spielberg, 22.06.2014: Boxenstopp von Lewis Hamilton beim Großen Preis von Österreich 2014.
Die Formel 1 ab 2014 – V6 mit 1,6 Liter Hubraum, gestärkt durch Turbo-Aufladung sowie die Rückgewinnung kinetischer und thermischer Energie – zwingt zum radikalen Umdenken. Selbst seit den Zeiten der Gründerväter Gottlieb Daimler und Carl Benz urvertrautes Wortgut gerät ins Wanken.
Der Motor ist tot, es lebe die Power Unit alias PU. Die Devise heißt PU = ICE + TC + MGU-K + MGU-H + ES + CE. ICE kürzelt Internal Combustion Engine (mithin Motor im neuen sprachlichen Gewand). Ihm arbeiten Turbocharger, die beiden elektrischen Bauteile Motor Generation Unit Kinetic und Heat, Energy Store und das elektronische Überwachungssystem Control Electronics zu. Knapp 600 PS ziselieren die Ingenieure allein aus dem Turbomotor. Dazu gesellen sich noch einmal bis zu 161 PS, aktiviert durch rückgewonnene Energie, zusammen also rund 760 PS, Tendenz rasch steigend. Klingt kompliziert und ist noch viel, viel komplizierter.
Das komplexe Herzstück des silbergrauen Hybrid-Renners erweist sich indessen von Anbeginn an als wenig störanfällig. Das britisch- deutsche Team, urteilen Beobachter der Szene, hat seine Hausaufgaben einfach besser gemacht als die anderen. Das gilt analog für das Monocoque, eine 55 Kilo schwere Struktur aus Kohlefaser und Kompositwaben, und die Aerodynamik. Mehr noch: Perfektion ist immer in Sichtweite. Dazu gehört, dass das Puzzle F1 W05 nahtlos zu einem Organismus verschmilzt. Alles kommuniziert mit allem – wie die drei Standorte Stuttgart, Brackley (Schwerpunkt Chassis) und Brixworth (Fokus PU).
Die drei Projektgruppen wuchsen im Rahmen eines hochintegrativen Systems zu einem Team zusammen. Jedes Bauteil war maßgeschneidert und bekam Zug um Zug den idealen Platz zugewiesen. Damit wird die Formel 1 in den folgenden drei Jahren zu einer Formula Mercedes-AMG Petronas F1. Die beiden ungleichen Piloten Lewis Hamilton und Nico Rosberg machen den Fahrertitel praktisch unter sich aus, die Konstrukteurs-WM stellt sich wie von selbst ein. Zwei Mal hat Hamilton in diesem spannungsgeladenen Duell die Nase vor. Beim dritten dreht Rosberg den Spieß um – und zieht sich anschließend bis auf weiteres aus dem Sport zurück.