Großartige Autos wie diese verdienen eine große Bühne: Vor dem Union Station Hotel in Nashville parken an diesem Tag im Oktober 2015 nur Automobilklassiker von Mercedes-Benz. Vor hundert Jahren war die Kathedrale des Verkehrs einer der wichtigsten Bahnhöfe der Südstaaten, nun ist sie eine Herberge. Hier kommt der Mercedes-Benz Club namens Gull Wing Group International zu seinem Jahrestreffen zusammen. Die Sammler zeigen ihre Schätze: 300 SL Coupés und 300 SL Roadster aus ganz Amerika sind versammelt.
Rund 60 Jahre nach seiner Vorstellung im Jahr 1954 gilt der 300 SL Flügeltürer längst als Automobil-Legende. Auch sein Nachfolger, der 300 SL Roadster, zählt zu den gefragtesten Klassikern weltweit. In der Gull Wing Group pflegen Besitzer und Fans bereits seit 1961 das Erbe dieser exquisiten Modelle. Der Club hat 625 Mitglieder in den USA, Kanada und anderen Ländern der Welt.
„Früher ging es bei unseren Treffen vor allem um technische Fragen: Dafür gibt es heute ein Online-Forum“, sagt Präsident Rich Rose. Für Fans, die mit den Besitzern und Experten ins Gespräch kommen wollen, ist das Treffen der Gull Wing Group indes weiterhin eine erstklassige Adresse. Motorhauben werden bereitwillig geöffnet, damit Besucher die Technik bestaunen können. Nur für die Clubmitglieder stehen ein Workshop im Lane Motor Museum und eine Tour zur Country Music Hall of Fame in Nashville auf dem Programm.
Viele Liebhaber polieren ihre Wagen für das Treffen auf Hochglanz. Aufwand der anderen Art treiben Frank und Beverly Spellman: Sie haben alle Dokumente sowie das Originalzubehör ihres Roadsters parat. Im Kofferraum liegen genau jene Gepäckstücke, mit denen die Erstbesitzer auf eine sechs Monate lange Reise durch Europa gingen, bevor die „weiße Taube“ in die USA verschifft wurde. Der Spitzname stammt noch aus jener Zeit: Dieser 300 SL wurde wegen seines Lacks im Farbton DB 50 „La Paloma Blanca“ genannt.
Aus Kalifornien ist Tom Hanson angereist. Er kümmert sich im Mercedes-Benz Classic Center in Irvine um die Ersatzteile und ist für die Sammler ein gefragter Ansprechpartner. Manche bitten den Experten um Tipps für eine Überholung des Reihensechszylindermotors oder der Einspritzpumpe. Andere brauchen Teile für die Bremsanlage. „95 Prozent der Wünsche können wir erfüllen. Und wenn ein Wagen für eine Restaurierung zu uns kommt, bauen wir selbst komplizierte Teile nach den Originalplänen nach“, erklärt Hanson.
Das 300 SL Coupé und der 300 SL Roadster sind außerordentlich wertvolle Automobile. Für die besonders seltenen Flügeltürer mit Aluminium-Karosserie, von denen nur 29 Stück gebaut wurden, bezahlen Sammler bei Auktionen inzwischen viele Millionen Euro. Wer die ersten Serienfahrzeuge der SL-Baureihe angesichts ihres Werts in der Garage einsperrt, tut sich trotzdem keinen Gefallen. „Für Klassiker ist Bewegung die beste Medizin“, sagt Tom Hanson. „Mindestens einmal in der Woche sollte man die Wagen nutzen und auf Betriebstemperatur bringen.“
Einer der Flügeltürer-Besitzer genießt seinen Schatz nach genau diesem Prinzip. Deshalb ist es für Siegfried Linke selbstverständlich, zu den Treffen der Gull Wing Group auf eigener Achse anzureisen. Linke lebt im US-Bundesstaat Washington: Für die Tour nach Nashville und zurück ist er mit seinem 300 SL, Baujahr 1957, stolze 5500 Meilen unterwegs. „Probleme hatte ich bislang keine. Nervig sind nur die Geschwindigkeitsbegrenzungen: Das Auto fühlt sich erst bei 80, 90 Meilen in der Stunde so richtig wohl.“
Für einen anderen Rekord steht Joel Morris: Er besitzt sein schwarzes 300 SL Coupé bereits seit 1957. Gekauft hat er das Auto beim Importeur Max Hoffman in New York: Es war ein Vorführwagen mit 6000 Meilen auf dem Tacho. „Ich musste all mein Geld zusammenkratzen. Meine Oma hat mir dann noch 400 Dollar geliehen, nur so hat es gereicht.“ Morris hat die Sektion Nashville des Mercedes-Benz Club of America mitbegründet und fährt mit seinem Klassiker auch heute noch durch die Hügel von Tennessee.
Die Ausfahrt der Gull Wing Group Convention führt durch Nashville und dann hinaus aufs Land. Vom Broadway der „Music City“ mit seinen Clubs und Honky-Tonk-Bars geht es zum imposanten Parthenon, einer Replik des griechischen Originals. Die Sportwagen ziehen vorbei an den schicken Herrenhäusern des Vororts Belle Meade. Dann wird es ländlich: Auf kurvigen Straßen spielen die 300 SL ihre Qualitäten voll aus. Ziel ist Lynchburg, wo der berühmte Whiskey Jack Daniel’s destilliert wird.
Rene Schaer war schon 1969 beim ersten Jahrestreffen der Gull Wing Group am Start und hat seither kaum eine Zusammenkunft ausgelassen: „Wir waren und sind Enthusiasten. Zwar werden immer noch viele Autos mit dem Schlauch gewaschen – doch manche Sammler putzen ihre Schmuckstücke schon mit der Zahnbürste.“ Auch 2016 werden wieder viele exquisite 300 SL in der Sonne glänzen. Dazu verpflichtet schon der Name des Austragungsorts: Die nächste Gull Wing Group Convention findet im September 2016 in Sun Valley, Idaho, statt.