Familie Kitsukawa wohnt wenige Kilometer außerhalb von Takamatsu, einer Stadt im Herzen der Insel Shikoku. Haus und Grundstück der Kitsukawas schmiegen sich an einen Hang, von dem man weit über die Hügel der südjapanischen Insel Shikoku blickt. Doch der Weitblick ist gerade nicht wichtig, denn Hausherr Shimpei Kitsukawa, 77, schickt sich an, sein Garagentor zu öffnen. Immer, wenn er das tut und Fremde dabei sind, verrät Ehefrau Nobuko, 70, lächelnd hinter vorgehaltener Hand, sei das ein ganz besonderer Moment: „Für meinen Mann fast eine heilige Handlung.“
Familiengesetz: Für die vier Kitsukawas ist Mercedes-Benz viel mehr als nur eine Automarke.
Shimpei Kitsukawa – der Ehrenpräsident des Mercedes-Benz Clubs Japan.
Ausdrucksstarke, wache Augen und volles graues Haar hat er. Einen richtigen Charakterkopf. Als Schiffsbauteilefabrikant in zweiter Generation ist er Chef von über 600 Mitarbeitern in Betrieben und Büros in Takamatsu, Tokio und Yokohama.
Was in der Garage unter dem Wohnhaus des Ehepaars parkt, ist für Herrn Kitsukawa das „schönste Auto der Welt“. Man sieht den 300 SL Roadster, Baureihe W 198, einen von 1.858 je gebauten, bereits durch die mit Holz eingefassten Glasscheiben.
Anfang der 1970er-Jahre habe er den Sportwagen erworben und sich mit ihm einen Lebenstraum erfüllt. „Das Auto kann sprechen, hören Sie nur. Es sagt: Mein Besitzer ist erfolgreich und hat einen sehr guten Geschmack. Mich darf nun wirklich nicht jeder fahren.“ Zudem verfüge der legendäre Zweisitzer über eine besondere Geschichte, erklärt der Fabrikant: „Ich glaube, er ist der erste 300 SL Roadster, der je nach Japan kam.“ Eine Expertengruppe eines Automobilbaukonsortiums habe Ende der 1950er-Jahre ihn sicher auch fahren, vor allem jedoch wohl studieren wollen, wie man ein so perfektes Auto baut.
Abfahrbereit: Der Ehrenpräsident des Mercedes-Benz Clubs Japan ist bereit für die große Inseltour.
Mönch mit Mercedes: Hirofumi Kawada aus der Nähe von Kobe ist mit seinem 190 SL auf Shikoku unterwegs.
Allzu oft holt Herr Kitsukawa den Sportwagen allerdings nicht mehr aus der Garage. Sein Rücken mache ihm Ärger, und lange Strecken seien für ihn nicht mehr drin. Daher dreht er manchmal einfach nur ein paar Runden um den Roadster, fächert mit dem Staubwedel über den Lack, streicht über das Sitzleder: „Für mich braucht es nicht viel mehr, um glücklich zu sein. Und ich meine – wirklich glücklich!“ Doch heute rücken Ross und Reiter aus. Mit Schwung schiebt Herr Kitsukawa, der einen gelben Pullover trägt, das Tor auf. „Schauen Sie, dieses Rot“, sagt er, wobei die Szenerie fast filmreif wirkt. „Meine Sonne geht auf!“ Dem liebenswürdigen Schauspiel folgen neben Ehefrau Nobuko auch Tochter Mari, 37, und Sohn Katsuya, 44.
Los geht’s! Herr Kitsukawa öffnet das Stoffverdeck, setzt sich ans Steuer, streift die fingerlosen schwarzen Handschuhe über und verharrt – mit geschlossenen Augen – einige Sekunden. Dann startet er seine „Lieblingsmusik“: den Motor des 300 SL. Tochter Mari schlüpft in ihren 280 SL, Baureihe W 113, Baujahr 1970, Sohn Katsuya steuert das 280 SE 3.5 Cabriolet, Baureihe W 111, Baujahr 1971, vom Hof. Beide Autos sind Geschenke des Unternehmers, dessen Frau auf dem Sozius des 300 SL sitzt. Ob sie selbst schon mal den Wagen gefahren ist? „Den 300 SL selbst fahren, ohne Automatik und Servolenkung? Nein, mein Respekt ist viel zu groß!“
Vor dem Grundstück warten drei weitere Klubmitglieder mit bereits laufenden Motoren. „Wenn Herr Kitsukawa zur Ausfahrt lädt, ist es eine Ehre und Selbstverständlichkeit, dabei zu sein“, formuliert typisch japanisch Hirofumi Kawada, ein buddhistischer Mönch mit dunkler Cap und Rolex-Youngtimer am Handgelenk. Der Mönch ist aus der Nähe des rund 150 Kilometer entfernten Kobe angereist. Sein 190 SL Roadster, Baujahr 1960, ist vier Jahre älter als er selbst. Die anderen zwei – Masashi Sumino, Masaki Kato – reihen sich mit R 107 und A 124 in die Klassikerkarawane ein.
Meerblick: Die Mitglieder des Mercedes-Benz Clubs Japan haben großen Spaß am Steuer.
Freie Fahrt, samtig-milde Luft. Cabriowetter! Die kleine Klubausfahrt mit Familie, Freunden – und den aus Deutschland angereisten Reportern – hat Herr Kitsukawa über mehrere Wochen vorbereitet. Äußerst akribisch. Vielleicht ist dies ja seine letzte größere Tour, denn wenn er in ein paar Monaten 78 wird, will er seinen Führerschein abgeben. „Freiwillig“, erklärt er. „Nach 60 Jahren am Steuer ist es so langsam Zeit. Nicht nur mein Rücken macht mir Probleme, auch die Reflexe lassen nach. Doch ganz ehrlich: Wenn ich dran denke, ohne Führerschein zu leben, werde ich schon jetzt etwas melancholisch.“
Ob er deshalb diese Tour so generalstabsmäßig geplant hat? „Nein“, antwortet er. „Ich möchte, dass sich alle wohlfühlen und bleibende Eindrücke gewinnen. Zudem: Ich habe einen ziemlich deutschen Charakter und gehe gerne nach Plan vor. Wir Japaner und ihr Deutschen ähneln uns in vielen Dingen.“ Schon der erste Stopp ist sensationell: Der Blick geht auf die Seto-Ohashi-Brücke, ein bis zu 8,5 auf der Richterskala erdbebensicheres Meisterwerk der Ingenieurskunst. 296.000 Kilometer Stahlseil – damit könnte man siebenmal die Erde umwickeln, 705.000 Tonnen Stahl und gut 3,5 Millionen Kubikmeter Beton stecken in der Brücke, die mit 13,1 Kilometern die längste zweigeschossige Brücke der Welt ist.
Seto-Ohashi-Brücke.
Boxenstopp: Nach dem Essen überlässt der Fabrikant seinem Sohn das Steuer des 300 SL.
Herr Kitsukawa kennt neben all den Zahlen auch die besten Blicke auf die Brücke. Vom Ufer des Pazifik aus und von den Serpentinenstraßen in den Bergen. Die Fahrt geht an Muschelfarmen, Olivenplantagen, Bonsaiparks und buddhistischen Tempeln vorbei, und es scheint ganz so, als habe Herr Kitsukawa seine Rückenschmerzen plötzlich vergessen. Die Gruppe fachsimpelt über Fahrgefühl, Motorensound und tauscht untereinander die Autos. Den 300 SL Roadster lenkt nun auch mal Kitsukawa Junior. Aber nur er!
Shikoku sei bekannt für den längsten buddhistischen Pilgerweg der Welt, erklärt der Mönch Hirofumi Kawada einen weiteren Superlativ, den die südjapanische Insel bietet: „Wer alle Tempel der Insel besuchen möchte, muss 1.400 Kilometer weit laufen, so lang ist der 88-Tempel-Pilgerweg.“ Auf der Strecke durch einen Nationalpark hoch über dem Meer machen die vier Kitsukawas das weiße 280 SE 3.5 Cabriolet kurzerhand zur Familienkutsche.
Wie selbstverständlich sitzen die Männer vorne und die Frauen hinten. Als der Fotograf bittet, dass doch einmal die Frauen vorne und die Männer hinten Platz nehmen mögen, kommt das Herrn Kitsukawa erst ein bisschen seltsam vor. Der Familienpatriarch hinten? Kurz zögert der Fabrikant – und sagt dann: „Ich soll also hinten sitzen und die beiden Frauen vorne? Okay, warum denn eigentlich nicht!“
Routenplan: Shimpei Kitsukawa erklärt seinem Freund Masaki Kato (links), wohin die Reise geht.
Die Stimmung der Gruppe wird immer gelöster. Und immer, wenn der Wind sein Haar zerzaust, hat Herr Kitsukawa sofort einen kleinen Kamm parat, den er in der hinteren Hosentasche trägt. „Ich bin schon etwas eitel“, kommentiert er lächelnd, als er sich ertappt fühlt. Längst hat er seinen Zeit- und Routenplan aufgegeben. Nun lässt auch er sich einfach treiben. Womit er sich außerdem bestens auskennt, sind die Wege zu den besten Restaurants der Insel. Sushi, denkt man nach dem Mittagsstopp, kann man nun wirklich nirgendwo anders mehr essen.
Und beim abendlichen Sechs-Gänge-Dinner im Gourmetrestaurant Chiman in Takamatsu genau das Gleiche: Das Wagyu Beef zergeht wie Butter auf der Zunge. Das Fleisch der Wagyu-Rinder, angeblich werden sie in Japan noch immer in meist kleinen Zuchtbetrieben von Hand massiert, mit Musik berieselt, mit Bier und Reiswein getränkt, gilt als das beste (und teuerste) der Welt.
Feuerzauber: Der Koch des Chiman-Restaurants in Takamatsu zelebriert seine Künste am Herd.
Gastgeberin: Nobuko Kitsukawa betreibt in Takamatsu eines der besten Restaurants der Region.
„Sie ahnen sicher nicht, wer der Chef dieses Spezialitätenrestaurants ist“, sagt der das Superfleisch und die Situation sichtlich genießende Gastgeber zum Ende des Dinners zu den Reportern. Er blickt verschmitzt grinsend auf das Schulterzucken und die gespannten Gesichter seiner deutschen Gäste. „Es gehört“, sagt er und macht eine wohlfeile dramaturgische Pause – „meiner lieben Frau.“ Die ganze Runde der Mercedes-Benz Fans applaudiert, inklusive Köchen, Kellnern und anderer Gäste.
Ein Besuch von Herrn Kitsukawas Fabrik stand eigentlich nicht auf dem Fahrplan. Doch am zweiten Tag liegt sie am Wegesrand. Ebenso der örtliche Mercedes-Benz Händler, zu dessen besten und treuesten Kunden Herr Kitsukawa seit Jahrzehnten zählt. Selbstverständlich werden von den emsigen Mitarbeitern für die ganze Gruppe Kaffee und Kekse serviert. „150 Neuwagen habe ich hier in sechs Jahrzehnten gekauft“, schätzt der Fabrikant. „Die meisten meiner Klassiker indes habe ich in den USA oder auch mal in Deutschland erworben.“
Seine Frau erzählt unterwegs immer wieder von ihren Aufenthalten in Europa und schwärmt richtig von ihren Erlebnissen im Westen, besonders von den Schlössern und kristallklaren Bergseen der Alpen, von den weiten Blicken und insbesondere Salzburg, wo sie mehrmals das internationale Klubtreffen Mercedes-Benz & Friends besuchte.
Inseltour: Den tabakbraunen 280 SL hat der Vater vor wenigen Jahren seiner Tochter geschenkt.
Nun übernimmt sie zur Überraschung aller doch mal kurz das Lenkrad des roten 300 SL Roadsters – auf einer großen, sattgrünen Wiese unterhalb des Castle in der an der Westküste gelegenen Stadt Marugame, eine knappe Autostunde von Familie Kitsukawas Landhaus entfernt. Sohn Katsuya und Tochter Mari, Masashi Sumino, Masaki Kato und der Mönch Hirofumi Kawada applaudieren der eleganten Unternehmergattin und halten diese Premiere mit ihren Kameras fest. Shimpei Kitsukawa indes, wohl wissend, dass die nicht nur für ihn sehr emotionale Klubausfahrt über seine Heimatinsel Shikoku nun so langsam auf die Zielgerade zusteuert, tupft sich mit einem Taschentuch die Augen trocken. Er tut das heimlich und wirkt dabei ein wenig verschämt. „Freudentränen“, sagt er. „Es sind doch nur Freudentränen.“