Sverre Monsen legt gleich mit einer überraschenden Geschichte los. Freitags arbeite er immer von Zuhause aus, erzählt er. Dann sitze er jedoch nicht im Büro, sondern mit dem Laptop in der Garage. Genauer gesagt: auf der Rückbank seines Mercedes-Benz 170 S, Spitzname Hermann.
„Ich weiß, dass das seltsam klingt, aber da ist es so viel bequemer als am Schreibtisch“, sagt der Norweger, dessen Vorname übersetzt „wilder Mann“ bedeutet. Sverre ist Polizist, 56 Jahre alt. Er liebt seinen dunkelblauen W 136 so sehr, dass er ihm sogar einen Social-Media-Account eingerichtet hat. Hermann Benz, eine Mischung aus dem Vornamen des Erstbesitzers und, klar, Mercedes-Benz. Steckbrief des Wagens: 1950 gebaut, am 3. Januar 1951 ausgeliefert, Farbcode DB 331.
Typisch Lofoten: Holzhäuser mit umgedrehten Booten davor.
Routiniert: Hurtigruten steht für die klassische Postschiffroute in Norwegen.
Sverres Frau Helen wird in den kommenden Tagen immer wieder das Wort „Liebe“ in den Mund nehmen, wenn von Hermann die Rede ist. „Wir würden ihn niemals verkaufen, er gehört zur Familie. Wir sprechen sogar mit ihm“, sagt sie und lacht. Sverre zwinkert ihr zu.
Kreischende Möwen kreisen nahe der Kaimauer. Helen und Sverre sind mit ihrem 170 S von Oslo nach Trondheim gereist, der ursprünglichen Hauptstadt Norwegens. Am Hafen treffen sie sich gleich mit einigen Freunden vom Mercedes-Benz Club Norwegen. Clubpräsident Kjetil Tveitan hat zur Ausfahrt geladen. Das Ziel: die Lofoten, eine Inselgruppe nördlich des Polarkreises mit schroffen Felsen und saftig-grünen Wiesen. Etwa 80 Inseln, die aus dem Nordatlantik ragen. Für viele ein Sehnsuchtsziel, von Trondheim nur eine Nachtfahrt mit dem Hurtigruten-Schiff entfernt.
Der Roadtrip beginnt also mit einem Boattrip in Trondheim. Die Stadt wurde im Jahr 997 von Wikingerkönig Olav Tryggvason gegründet, eine Statue auf dem Marktplatz erinnert an ihn.
Bunte Holzbauten und kleine Kanäle prägen das Bild. Es bleibt nicht viel Zeit für die Geschichte der drittgrößten Stadt Norwegens, denn die MS Nordkapp wirft mit ihrer Länge von 123 Metern bereits großen Schatten. Die seitliche Laderampe ist geöffnet, viele Paletten Ware und drei Mercedes-Benz stehen an, um in den Schiffsbauch zu gelangen. „Alter vor Schönheit“, flüstert Clemens Olsson Tveitan und schmunzelt. Vor ihm parken der 170 S von Sverre und der rote 190 SL von Grete und Thor Denstad.
Autoaufzug: Der 190 SL gelangt über die seitliche Laderampe ins Hurtigruten-Schiff.
Abenteuerlich: Thor lenkt seinen 190 SL von Bord – das Auto ist ein Geschenk seiner Ehefrau.
Clemens ist 19 Jahre alt und der Sohn von Hilde Olsson und Kjetil. Er wartet auf die Verladung des Familienautos, des E 220 Cabriolet, Baujahr 1995. Jedes Fahrzeug wird einzeln ins Innere des Schiffs herabgelassen.
Am frühen Morgen überquert das Postschiff den nördlichen Polarkreis. 66° 33’ N. Die Grenze zum Land der Mitternachtssonne ist nicht nur eine magische Zahl, sondern auch ein unsichtbarer Ring um die Erdkugel. „Wer zum ersten Mal den Polarkreis überquert, muss getauft werden“, erklärt Ståle Andersen, Erster Nautischer Offizier. Sein Kollege und Navigationsoffizier Harald Aarsund hat das vor acht Jahren erlebt, mit 18. Der Brauch möchte es so und weil es Glück bringen soll, stellen sich auch die Clubmitglieder auf Deck 7 an, um sich eine Kelle Eiswasser über den Kopf gießen zu lassen.
Mit nassen Haaren genießen sie noch ein wenig den Blick auf die kleinen Inseln. Zum Glück zeigt sich der Himmel pünktlich zur Polarkreisüberquerung gnädig und formiert mehrere Wolkenschichten, durch die magisches Sonnenlicht hindurchscheint. Das Wasser wirkt an manchen Stellen wie ein Spiegel. Die grünen Inseln rechts und links erzählen leise Geschichten, die zerklüfteten grauen Felsen ragen wie ewige Zeitzeugen aus dem Atlantik. Das Schiff nähert sich Svolvær, und noch bevor die dunkle Lofotenfelswand zu sehen ist, sprechen die sieben Mercedes-Benz Ausflügler an Bord über ihre Vorfahren. Wie heroisch diese sich wohl an den kleinen Küsten Nordnorwegens festgesetzt haben, wie der norwegisch-arktische Dorsch ihnen bereits vor 5.000 Jahren eine Lebensgrundlage bot.
Dorsch oder Kabeljau, ohne den Fisch hätte es keine Wikinger gegeben. Getrocknet und somit nahezu unbegrenzt haltbar war er Proviant und Tauschmittel.
Vom damals harten Leben ist nichts mehr zu sehen, als das Schiff in den Hafen einläuft. Es duftet nach Freiheit und Abenteuer, die Sonne mag nicht untergehen, obwohl es bald Mitternacht ist. Zeit, die Autos von Bord zu fahren, die Inseln zu erkunden: steil aufragende Felsen, grasende Schafe. Grete und Thor fahren mit geöffnetem Verdeck. Es ist zwar kühl, doch die beiden lieben es, die Natur um sie herum mit allen Sinnen zu erleben.
Fixpunkt: Der Leuchtturm Kjeungskjær dient vor allem Fischern zur Orientierung.
Das Ziel der fast taghellen Nachtfahrt: ein Leuchtturm im Norden. Dort verbrachte Sverre als kleiner Junge viele Ferien, seine Vorfahren lebten dort. Er fährt mit dem 170 S voraus, hinter ihm Thor mit seinem 190 SL, gefolgt von Hilde im E 220 mit Clemens auf dem Beifahrersitz und Clubpräsident Kjetil hinten rechts.
Die Straßen sind leer, Nebel kriecht über die schroffen Berge. Die knapp 5.000 Bewohner der Insel scheinen kollektiv zu schlafen. Sverre parkt seinen geliebten Hermann und läuft auf einem Steg Richtung Meer, die Gruppe folgt ihm. Wenige Hundert Meter entfernt deutet er auf ein riesiges Holzgestell, dort hängen die Einheimischen im Februar den Kabeljau zum Trocknen auf, erklärt der Polizist. Auch er habe dabei geholfen, als er noch klein war. Mittlerweile sind die Augen der Freunde klein, doch der Himmel scheint nicht müde zu werden.
Der nächste Morgen beginnt mit einer ähnlich mystischen Lichtstimmung, nur der Nebel hat sich verzogen. Thor wuselt schon lange um den 190 SL herum, faltet Jacken und verstaut sie im Kofferraum. „Dieses Auto ist das Geschenk meines Lebens“, verrät er. Grete kaufte es ihm vor 16 Jahren, als er „eine schlechte Phase“ hatte. Er war traurig, sie wollte ihm eine Freude machen. Thor und Grete sind seit 45 Jahren verheiratet und leben in Oslo, etwas außerhalb stehen ihre vier Autos in einer 700 Quadratmeter großen Garage. 40 Fahrzeuge haben dort Platz, eine kleine Werkstatt des Clubs rundet das Anwesen ab. Auch Kjetil besitzt einen Schlüssel für die große Garage.
Mittagspause: kurzer Stopp an einem Holzdorf-Campingplatz.
Perfektes Trio: schroffe Berge, stilles Wasser, leere Straßen.
Er und Hilde kommen dazu. Der Clubpräsident streicht über das Verdeck seines E 220 Cabriolet. Seine Frau hat er 1982 während des Jurastudiums kennengelernt. Kjetil arbeitet heute im norwegischen Gesundheitsministerium, Hilde als Koordinatorin eines Tierheims. „Nach einem Unfall brauchte ich einen rückenschonenden, abwechslungsreichen Job“, erzählt sie, als sie wieder am Steuer sitzt. „Der W 124 ist wirklich perfekt für die schmalen Straßen der Inseln. Wenn man selbst fährt, empfindet man das noch viel intensiver.“
Apropos selbst fahren: Helen würde den 170 S auch gerne über die Insel pilotieren, jedoch dauere es, bis der Sitz perfekt eingestellt ist, erklärt sie, als sie nach der Mittagspause wieder rechts Platz nimmt. „Ich mag es, mit dem Klassiker unterwegs zu sein, auch auf dem Beifahrersitz.“ Und Hermann, der sei nicht nur für sie und ihren Mann ein Traumauto: „Jeder liebt dieses Auto und winkt uns zu.“ Ein Tankstopp könne schon mal 20 Minuten dauern, denn der Klassiker sei ein beliebtes Fotomotiv und Sverre ein geduldiger Fragenbeantworter. „Im Auto vergesse ich alles um mich herum, das ist wie eine Zeitreise in eine andere Welt“, sagt Helen und hängt gleich noch eine Anekdote an. Vor wenigen Jahren sind sie zu einem Trip Richtung Mercedes-Benz Museum in Stuttgart aufgebrochen – allerdings nie dort angekommen.
„Wir haben so viele Stopps eingelegt und Städte besichtigt, dass wir nur bis nach Münster kamen.“ Für 2020 planen sie die Reise erneut.
„Unsere drei erwachsenen Kinder sind nicht so verliebt in den 170 S, aber als Hochzeitsauto war er ihnen gut genug“, sagt Sverre lachend. „Doch wenn unsere Enkel zu Besuch sind, fahren wir immer mit ihnen durch die Gegend. Vielleicht können wir unsere Liebe für den Oldtimer ja an die Kleinen weitergeben.“ In wenigen Tagen wird er seinen Polizeidienst quittieren, pünktlich zum 57. Geburtstag. Das ist in Norwegen möglich. Was dann mit seinem Homeoffice-Freitag ist? „Ich setze mich trotzdem auf die Rückbank. Ohne Laptop. Einfach so.“