Mehr als ein schönes Auto.

Eins gestehe ich sofort und aus freien Stücken: Ich bin ein durch die Carrera Panamericana inspirierter Fan der SL Baureihen, deren Historie mit den ersten Testfahrten im Frühjahr 1952 begann. Und meine Faszination hat ihren Ursprung in genau diesem Ur-Modell des SL, dem legendären 300 SL Rennsportwagen (W 194).

Unwiderstehliche Sportler-Gene und ein bahnbrechendes Design zeichnen ihn aus. Mit dem stromlinienförmigen Rennauto, das einen damals phänomenalen cW-Wert von nur 0,25 und anfangs einen merkwürdigen Klappen-Einstieg statt einer Tür besaß, kehrte Mercedes-Benz 1952 in den Rennsport zurück. Und wie!

Ein schönes Auto? Viel mehr als das! Der W 194 mit der Fahrgestellnummer 002 ist der älteste noch existierende Mercedes-Benz SL (Super-Leicht). Der erste erfolgreiche Einsatz des neuen Rennwagens? Karl Kling belegte bei der Mille Miglia im Mai 1952 am Steuer eines W 194 den zweiten Rang. Insgesamt wurden nur zehn Exemplare des Ur-SL gebaut.

Edles Geflügel: Der Blick in den 300 SL Rennsportwagen (W 194), der bei der Carrera Panamericana im Jahr 1952 den zweiten Platz errang.

Der älteste noch existierende SL (W 194) mit der Fahrgestellnummer 002 ist heute Teil der Sammlung von Mercedes-Benz Classic.

Rennboliden mit dem Stern.

Fast alle weiteren wichtigen Rennen des Jahres gewannen die formschönen Rennboliden mit dem Stern. Beim Großen Preis der Schweiz, ebenfalls im Mai, errangen die Piloten Karl Kling, Hermann Lang und Fritz Rieß einen Dreifach-Triumph. Beim im Juni folgenden 24-Stunden-Rennen von Le Mans nahm die Rennleitung Anstoß an den Einstiegsklappen. Das Mercedes-Benz Team musste schnell handeln und schon waren die legendären Flügeltüren geboren. Mit ihnen wurde der Weg frei für den 300 SL Doppelsieg in Le Mans. Im August 1952 folgte beim Eifelrennen auf dem Nürburg­ring gar ein Vierfachsieg.

Dann der Höhepunkt im November 1952: die ­Carrera Panamericana! Fünf Tagesetappen über mehr als 3 000 Kilometer durch Mexiko. Auf Asphalt, auf Schotter oder noch abenteuerlicher. Kurven so scharf wie Rasierklingen, Schlaglöcher so tief wie Fallgruben. Immer Vollgas. Die Carrera galt als der Mount ­Everest unter den Rallyes – eine der imageträchtigsten Rennveranstaltungen weltweit. Am Ende verbuchten die 300 SL Silberpfeile mit den spektakulären Flügel­türen einen sensationellen Doppelsieg, ein längst legendärer Geiereinschlag in die Frontscheibe des späteren Siegerboliden inklusive.

„Sportwagen des Jahrhunderts.“

Das Rennfahrerteam Karl Kling und Hans Klenk triumphierte vor dem Team Hermann Lang und Erwin Grupp. Die Motorsport­saison 1952 war der Beginn der eindrucksvollen ­Silberpfeil-Ära – und die Rennsport-Erfolge weckten weltweit Begehrlichkeiten nach einem Serien­sportwagen für die Straße. Dieser, der 300 SL (W 198), avancierte Mitte der 1950er-Jahre zum Wirtschaftswunder auf vier Rädern und zog Automobildesigner, Techniker und Ingenieure zur Marke mit dem Stern, die eine Renaissance erlebte.

Aus dem W 194 entstand also der W 198. Der 300 SL Seriensportwagen wurde ab 1954 (erst als Coupé, von 1957 bis 1963 auch als Roadster) ein Verkaufsschlager vor allem in den USA und Westeuropa. Frank ­Sinatra, Clark Gable, Tony Curtis, Romy Schneider, Aga Khan, Alfried Krupp, Baron von Thyssen waren nur einige der prominenten Erstbesitzer. Die Leser des deutschen Fachmagazins „Motor Klassik“ wählten den 300 SL im Jahr 1999 sogar zum „Sportwagen des Jahrhunderts“.

Der Nachfolger des 300 SL war die „Pagode“ (der W 113 wurde ab 1963 ausgeliefert), mit der Automobildesigner Paul Bracq sich selbst ein Denkmal setzte.  

Der 300 SL (W 198) von Hans Werner Aufrecht.

Der SL 320 und der SL 500 (R 129) von Wolfgang Rosenbaum in ihrer Garage.

Synonym für herausragende Innovationen.

Ihr folgte die Regentschaft des R 107, der in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert – und bis 1989 gebaut wurde. Sich 18 Jahre erfolgreich am Markt zu halten und zigtausend begeisterte Käufer auf allen Kontinenten zu finden, bedeutet den Rekord aller SL Modelle.

Im Jahr 1989 erschien dann als Nachfolger der R 129, eines der Meisterstücke des langjährigen Design-Chefs von Mercedes-Benz, Bruno Sacco.

Eines haben alle SL Modelle gemein: Sie sind Synonym für herausragende Innovationen und kultivierte Sportlichkeit.

Im zweiten Halbjahr 2021 werden die zum ersten Mal ausschließlich von Mercedes-AMG entwickelten SL Modelle präsentiert. Ihr „Gesicht“ wird durch die charakteristische, AMG spezifische Kühlerverkleidung geprägt. So schließt sich der Kreis – und es gibt wohl keinen Zweifel: Die Legende lebt!

300 SL: Hans Werner Aufrecht.

Seine nicht sehr große, aber sehr aus­gesuchte Klassikersammlung hat Hans Werner Aufrecht noch nicht allzu vielen Menschen gezeigt. Doch an diesem sonnigen Tag macht der AMG Mitgründer eine Ausnahme. Wir sind in einem kleinen Ort weit im Osten der Niederlande. Drum herum: flaches Land, Wälder und große Weiden, auf denen vornehmlich Pferde grasen. Die nächste bekanntere Stadt ist Enschede. Das elektrische Tor öffnet sich. Geradeaus ein weißes Ferienhaus mit Reetdach. Rechts eine Garage, ebenfalls mit weißem Farbanstrich und Reetdach – und mit bereits geöffneten Rolltoren. Zwei SL Modelle parken drinnen: ein weißgrauer 300 SL Roadster und eine 280 SL „Pagode“ in Moosgrün metallic. Zudem besitzt Hans Werner Aufrecht, 82, noch einen schwarzen 280 SE 3.5 „Flachkühler“ und ein weißgraues 300 S Cabriolet A.

Fokussieren wir uns auf den W 198. „Als ich 1959 bei Mercedes anfing, fuhr ich noch einen kleinen Fiat“, sagt das gut gelaunte A von AMG. „Doch ich hatte damals bereits einen großen Traum: Eines Tages werde ich einen 300 SL Roadster besitzen – und vor allem fahren. 33 Jahre später, 1992, habe ich mir diesen Traum erfüllt. Motor, Getriebe, Rahmen, Achsen, Lack, Innen­ausstattung, alles ist so, wie ich es mag. Perfekt!“

Mit routinierter Leichtigkeit öffnet er das Stoffverdeck, schiebt den Sportwagen aus der Garage und startet den Sechszylinder. Warum besitzt er den Roadster und nicht den „Flügeltürer“? „Der Roadster passt viel besser zu mir und meinen Ansprüchen“, antwortet der Unternehmer.

Vielfahrer: Hans Werner Aufrecht fährt mit seinen Klassikern einige tausend Kilometer pro Jahr. Sein 300 SL Roadster ist in perfektem Zustand.

Eine Ikone, ein Kunstwerk.

„Ich komme leicht hinein und wieder raus. Und im Sommer heizt das Auto nicht so sehr auf wie der Flügeltürer. Der ist eine Ikone, na klar. Ein Kunstwerk. Aber der Roadster besitzt für mich den höheren Nutzwert.“ Die zweistündige Ausfahrt führt unter fast wolkenlosem Himmel durch grüne Alleen, vorbei an großen Gestüten und gepflegten Golfplätzen.

Das Ziel: ein in dieser Gegend sehr bekanntes Restaurant, in dem auch die Fußballer von Ajax Amsterdam und anderen niederländischen Spitzenclubs gelegentlich einkehren. Nach dem Essen greift Hans Werner Aufrecht wieder vergnügt nach dem Autoschlüssel. „So, genug Pause gemacht jetzt“, sagt er. „Mein Roadster muss auf die Straße.“

230 SL (W 113): Lilian und Christian Werner.

„Die Pagode mal so völlig anders zu sehen, das hat uns beiden an dem Auto auf Anhieb gefallen“, sagt Lilian Werner, 34, studierte Betriebswirtin, die in Stuttgart in der Controlling-Abteilung eines Automobilzulieferers arbeitet.  Ihr Mann Christian, 36, Unternehmer und ebenfalls studierter Betriebswirt, der als Werkstudent im Mercedes-Benz Classic Center arbeitete, lacht und lüftet sein Basecap: „Als wir den 230 SL vor drei Jahren kauften, hatte er schon dieses markante Aussehen eines Rennautos inklusive der Carrera-Aufkleber. Er wurde in den USA um­­gebaut und ging durch mehrere Hände. Wir wussten damals gar nicht, was die Carrera ist. 

Dann haben wir uns mit der Rallye beschäftigt und erfahren: Es gibt sie ja immer noch. Jedes Jahr im Oktober, ein pures Fahrabenteuer über mehr als 3 000 Kilometer vom Süden in Richtung Norden durch Mexiko.“ Beide fassten den langfristigen Plan: „2022 sind wir mit unserem 230 SL in Mexiko dabei“, sagt Christian. „Es wird ziemlich sicher das Abenteuer unseres Lebens“, sagt Lilian am Wohnzimmer­tisch, an dem auch die beiden Söhne Felix, 5, und Jakob, 7, sitzen. Allzu große Erfahrungen mit Rallyes haben die Werners bislang nicht gesammelt. Nur die Baltic Sea sind sie mal mitgefahren – mit ihrem 280 SEL.

Familien-Bande: Wenn Lilian und Christian im nächsten Jahr im Oktober nach Mexiko reisen, um bei der Carrera Panamericana zu starten, hoffen die beiden Söhne dabei zu sein. 

Ihr Auto ist besonders.

Im Mittelpunkt steht für sie jetzt erst mal die Finanzierung ihres mexikanischen Rennabenteuers. Und rechnen können sie beide: Der Fahrzeugumbau für die Carrera inklusive Überrollkäfig wird rund 20 000 Euro kosten. Die Startgebühr beträgt 8 000 Euro. Die Flug- und Hotelkosten für sie selbst, die beiden Söhne, einen Mechaniker und einen Kamera­mann, die sie mit­nehmen wollen, werden sich auf 25 000 Euro belaufen. Für Verschiffung, Zoll, Begleitfahrzeug vor Ort veranschlagen sie weitere 15 000 Euro. Hinzu kommen Sprit- und Mautkosten, eine Sicherheitsrücklage für Reparaturen ... Lilian winkt ab. „Auch die finanzielle Herausforderung ist enorm“, sagt die Controllerin. „Aber was soll’s. Wir haben nun mal vor, die Carrera zu fahren.“ „Sponsoren sind willkommen“, erwidert ihr Mann. „Gemeinsam an die Grenzen gehen und sicher ein Stück darüber hinweg, das ist etwas, das nicht alltäglich und das Risiko wert ist.“ Klares Resümee: Ihr Auto ist besonders – sie selbst sind es auch!

450 SL (R 107): Jürgen Müller.

„Meine Präferenz bei Autos war schon immer klar definiert in meinem Kopf. Ich glaube, sie entstand durch den Kinofilm ‚Mad Max‘, den ich als Jugendlicher sah: Achtzylinder, Heckantrieb, lange Haube, kurzes Heck!“, erklärt Jürgen Müller, IT-Spezialist und Familienvater aus einem kleinen Ort unweit von Vaihingen an der Enz. „Bereits mit 18 hatte ich mir meinen ersten Klassiker gekauft. Lange waren es Muscle Cars, die mir gefielen. Doch im Jahr 1998 ging mein Fokus auf den SL. Ein Freund gab mir den Tipp, dass ein zerlegter 450er in einer Lackiererei in Göppingen sein Dasein fristete. Seit mehreren Jahren schon. Ja, dachte ich, den gucke ich mir dann mal an. Warum? Weil ich nie den einfachsten Weg gehe, sondern immer die Herausforderung suche.“

Die Industriehalle in Göppingen war zugig und verstaubt. Mittendrin stand der fast völlig zerlegte Wagen. Die meisten Teile waren in Kisten und Kartons verpackt.

Müller kaufte alles für 7 800 Mark. Nach und nach baute er den R 107 zu Hause in seiner Werkstatt – „mit viel Hingabe und Herzblut“ – wieder zusammen: „Über 200 Arbeitsstunden habe ich aufgewendet und etwa 12 000 Mark investiert, dann hatte ich diese vergessene Schönheit wieder zu neuem Leben erweckt. Nicht alles ist zu hundert Prozent original, die BBS-Felgen und das Lenkrad zum Beispiel, aber alles ist für mich stimmig.“

Draufgänger: Jürgen Müller hat bei Autos klare Präferenzen: „Achtzylinder, lange Haube, kurzes Heck!“

Voll in seinem Element.

Was ihm besonders gefällt an seinem R 107? „Das Gesicht. Ich finde, mein SL sieht aus wie ein wütender Stier mit gekräuselter Stirn. Und der Stern ist der Nasenring.“ Im Jahr 2003 chauffierte er seine Ehefrau Ulrike im SL zum Standesamt. Zwei Jahre später kam die gemeinsame Tochter zur Welt. Oft fuhren die Müllers an lauen Sommertagen mit geöffnetem Verdeck zu dritt übers Land. Und heute? Müller fährt sich mit der Hand durchs lockige Haar. Sucht nach den passenden Worten. „In Zeiten von großer Ungewissheit wie diesen sucht man nach Sicherheit. Und genau das strahlt der R 107 für mich aus“, antwortet er. „Ich weiß, SL steht für Super-Leicht. Für mich stehen die beiden Buchstaben aber auch für ,Spielerische Leichtigkeit‘. Oder eben für ,Sicherheit und Lebensfreude‘.“

Dann setzt er den Blinker, biegt ab von der Straße auf das Gelände eines Kiesel- und Betonwerks. Hier ist er voll in seinem Element. Und sein 450 SL ebenso.

SL 320 und SL 500 (R 129): Wolfgang Rosenbaum.

Wolfgang Rosenbaum und seine Frau hatten schöne Pläne für die Zeit nach ihrem Arbeitsleben. „Wir wollten uns ein Cabrio zulegen und ganz entspannt in Richtung Sonne und Meer, am liebsten bis weit hinunter in den Süden Italiens fahren“, sagt der ehemalige Zahntechnik-Unternehmer aus Hamm in Westfalen. Seine Frau und er machten sich „ergebnisoffen“ auf die Suche nach einem adäquaten Klassiker – und fanden im Januar 2018 ihren Traumwagen bei einem Händler in Bielefeld: einen SL 320 (R 129), Brillantsilber metallic, bester Zustand, Baujahr 1995. „Ein richtiges Top-Auto, das zudem auch bezahlbar ist. Wir waren uns sofort einig: Der passt zu uns. Und im April wollten wir mit ihm aufbrechen“, erinnert sich der 67-Jährige.

Doch vorher verhinderte das Schicksal die Verwirklichung der Reisepläne des Ehepaars: Rosenbaums Frau verstarb plötzlich. So verreiste er nicht wie geplant, sondern kaufte sich im Sommer 2018 einen zweiten Roadster der 129er-Baureihe mit größerem Motor, aber identischer Lackierung: seinen SL 500, Baujahr 2000. Und mit dem machte er sich dann ein Jahr später tatsächlich auf den Weg nach Italien. „Ich war drei Wochen und insgesamt rund 5 000 Kilometer unterwegs in der Toskana, sowohl an der Adria als auch an der Riviera“, erzählt Rosenbaum. „Mit diesem Auto zu reisen, meist natürlich mit offenem Verdeck, ist einfach grandios.“

Kreativ: In die Garage seiner beiden R 129 (SL 320 und SL 500) hat der ehemalige Zahntechniker und Unternehmer ein Jahr Arbeit und viel Liebe zum Detail investiert. 

Wo die Reise hingeht.

Was ihm besonders gefällt am SL 500? Der Westfale überlegt nicht lange: „Alles! Das Design, die Ver­arbeitung – und beim Cruisen dieses Erhabene. Wenn du mal fix ein paar PS mehr brauchst, dann gibt der Motor sie dir sofort. Das ist phänomenal.“

Unlängst hat er seine Zweiergarage aufwendig renoviert: die Wände mit Holz und Fliesen verkleidet, Deckenbalken eingezogen, Strom gelegt, Bilder und Lampen aufgehängt, den Boden signalrot gestrichen. Sobald möglich, will er hier mit Freunden eine Garagenparty feiern.

Wo die nächste Reise hingeht? „In Richtung Ostseeinsel Rügen“, sagt Wolfgang Rosenbaum. „Ich fahre einfach wieder los. Wo es mir gefällt, da bleibe ich. Solange es mir gefällt. Ich bin doch völlig frei!“