Der Helm wiegt sieben Kilogramm. Wenn Valtteri Bottas den Kopf von rechts nach links, nach vorn und wieder zurück bewegt, kann man dabei zusehen, wie sein T-Shirt langsam Tropfen für Tropfen aufsaugt. Minute für Minute, bis es sich dunkel färbt. 45 Minuten Nacken stärken. 45 Minuten wie in einer Formel -1-Kurve – mit Fliehkräften, die den Belastungen eines Kampfjetpiloten ähneln. Formel-1-Fahrer sind schmale, nicht besonders hoch aufgeschossene Männer. Wer sie jedoch mit freiem Oberkörper sieht, erkennt, wie viel Training sie schon hinter sich haben. Bottas ist 1,73 m groß und wiegt 70 Kilo.
Er hat einen kräftigen Nacken und einen Trizeps, der sich wie ein Stahlseil um seinen Oberarm windet. Ein paar Stunden später, ein typischer finnischer Abend im Februar. Windig, feucht, minus 18 Grad. Die Region 100 Kilometer nördlich von Helsinki ist die Hälfte des Jahres mit Schnee bedeckt, die Seen ruhen unter dickem Eis. Es mutet wie ein Wintermärchen an, dass es ein Sohn dieser Gegend in die Formel 1 schafft – sonst liegen hier neben den Kinderbetten eher Schlittschuhe und Eishockeyschläger, die mit schwarzem Tape bandagiert sind. In Nastola, einem so kleinen Ort, dass er auch vielen Finnen unbekannt ist, wuchs Bottas auf.
Heute wohnt er in Monaco, aber er besitzt in der Nähe ein Holzhaus am See. Es ist, wie das kleinere Saunahäuschen nebenan, graublau angestrichen, mit weißen Balken. Von der Terrasse hat man einen weiten Blick ans gegenüberliegende Ufer, rechts und links stehen Tannen, Birken und Espen wie aufrechte Wächter der Ruhe. Das Haus am See ist Bottas’ Rückzugsort. Bis zum ersten Rennen in Australien, wo er hinter Sebastian Vettel und Lewis Hamilton auf Anhieb den dritten Platz belegen wird, sind es noch gut sechs Wochen.
Bottas steht – eingepackt in Wollmütze, dicke Daunenjacke, Thermohose und dunkle Stiefeln – auf der Terrasse und zeigt auf ein quadratisches Loch im gefrorenen See. Sein Vater hat es am Vorabend für ihn gesägt. Bottas wird später noch saunieren. Als sein Name erstmals als Nachfolger von Weltmeister Nico Rosberg kursierte, waren viele Motorsportfans überrascht. Beim Rennstall Williams ein guter Fahrer, gewiss. Aber eben nicht mehr ganz jung. Dass er lediglich einen Einjahresvertrag erhalten hatte, schien die Kritiker zu bestärken.
Bottas wurde als Lückenbüßer bezeichnet, als Verlegenheitslösung, als jemand, der Lewis Hamilton nicht das Wasser reichen könne. Mittlerweile aber hat der Neue mehrfach bewiesen, dass sich die Kritiker in ihm getäuscht haben. Wer also ist der finnische Underdog, der sich vom Testfahrer bei Williams zum Rennfahrer bei Mercedes-AMG Petronas Motorsport entwickelt hat? „Ich war vier Jahre alt, als mich mein Vater zum ersten Mal zu einer Kartbahn fuhr“, sagt Bottas auf der Terrasse. Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der sich augenblicklich in Motorenlärm und Benzingeruch verliebte. „Er setzte mich in eines der Karts und ich fühlte sofort: Das will ich machen!“
Aber der kleine Valtteri war zu kurz geraten. Seine Füße reichten nicht an die Pedale. „Ich musste wieder aussteigen und war todtraurig“, sagt er mit dem Lächeln eines Buben, der das Happy End kennt. „Als wir wieder zu Hause waren, nahm mich mein Großvater in den Arm: ,Wenn du ein Jahr lang jeden Morgen dein Müsli isst, kommst du nächsten Sommer ganz sicher an die Pedale.‘ Ich sah meinen Großvater mit großen Augen an und er sagte nur: ,Versprochen.‘“ Also aß der vierjährige Valtteri ab diesem Tag jeden Morgen Müsli, die endlos langen, kalten und dunklen Herbst- und Wintermonate vergingen, und als im Frühsommer der Schnee geschmolzen war, durfte er wieder auf die Kartbahn.
Der Bub setzte sich ins Kart und drückte aufs Gas. „Dieses Gefühl werde ich nie vergessen“, sagt er heute. Die Kälte hat seine Backen leicht gerötet, seine blauen Augen schimmern freundlich unter der Wollmütze. Er meint natürlich die Kraft und Energie des Gefährts, die seinen noch kindlichen Körper durchströmte, er spricht von der Geschwindigkeit, die ihn in den Sitz presste. Was er aber vor allem sagen will, ist, dass es sich gelohnt hatte, jeden Morgen Müsli zu essen. „Denn eigentlich“, sagt Bottas grinsend, „mochte ich damals gar kein Müsli.“ Wenn Bottas lacht, verliert sein kantiges Gesicht mit den ausgeprägten Kieferknochen jede Wettkampfhärte.
Seine Grübchen an den Mundwinkeln lassen erahnen: Das mag ein kühler Finne sein, aber nicht nur diese Anekdote spricht dafür, dass er wahrscheinlich ein ziemlich harmoniebedürftiger und bodenständiger Kerl ist. Manche Geschichten aus der Kindheit beschreiben tatsächlich den wahren Kern eines Menschen. Etwas Unverrückbares, das einen prägt wie kantige Kieferknochen. Valtteri Bottas, der in die großen Fußstapfen der finnischen Rennfahrerlegenden Mika Häkkinen und Kimi Räikkönen getreten ist, hat seine Lektion früh gelernt.
Wer fast ein Jahr lang etwas isst, das er nicht besonders mag, muss entweder ein veritabler Dickkopf sein oder so sehr an seinen Träumen und Wünschen hängen, dass er nichts unversucht lässt, um sie zu realisieren. „Dickkopf?“, fragt Bottas in die Stille, die nach der Frage eingesetzt hat. Noch so ein Detail, das ihn auszeichnet. Er denkt nach, bevor er antwortet. Manchmal vergehen gute zehn bis zwanzig Sekunden schweigend. Nicht wenige Beobachter legen ihm das als übliche finnische Zurückhaltung aus.
Aber wer ihn ein paar Tage in Finnland begleitet, merkt zunächst, dass nicht jeder Finne dem Klischee nacheifert, und lernt zudem die stets abwägende, kluge Art des Valtteri Bottas schätzen. Nicht jeder Rennfahrer antwortet so schnell, wie er gern fährt. Den einen oder anderen hat es verbal ja schon öfter von der Strecke gehauen. „Mein Wille“, sagt Bottas schließlich ohne jedes erkennbare Grübchen im Gesicht, „ist eisenhart. Ich hungere und dürste, ich sehne mich danach, immer besser zu werden. Wenn mich das zu einem Dickkopf im Sinne eines Menschen macht, der sehr zielstrebig ist, will ich das nicht verneinen.“
Der gepflegt formulierte Satz hallt von der Terrasse zum gefrorenen See hinaus und schwebt über dem Eisloch, in das Bottas gleich steigen wird. Eisenharter Wille. Das klingt nicht nach einem, der sich dauerhaft damit zufrieden gibt, als Zweiter oder Dritter durchs Ziel zu fahren. „Ich habe doch nichts zu verlieren, kann eigentlich nur gewinnen“, sagt er nach einer kurzen Pause. Er gefällt sich in der Rolle des Underdogs. Es war Bottas, der nach Nico Rosbergs überraschendem Rücktritt direkt bei Mercedes-AMG Petronas Motorsport Chef Toto Wolff anrief und um den begehrten Fahrersitz bat.
Obwohl er früher mit einem limitierten Auto schon in die Punkte gefahren war und bereits auf dem Podest stand, hat Bottas nicht das Gefühl, schon etwas erreicht zu haben. „Ich glaube, wenn man einen Titel gewinnt, hat man tatsächlich etwas erreicht. Aber zuerst muss man Rennen gewinnen“, sagt er. Kurze Zeit später wird es so weit sein: In Sotschi, Russland, siegt er im Silberpfeil das erste Mal in seiner Karriere. Bottas, der Rennfahrer, gilt als fleißiger, wissbegieriger Arbeiter, der eine gute Grundschnelligkeit bietet, im Regen seine Stärken zeigt und die Risiken auf der Strecke sehr gut kalkuliert.
In den Jahren 2010 bis 2012 war er Testfahrer für Williams, ab 2013 saß er im Cockpit. Bis zum Beginn dieser Saison hatte er in 77 Rennen 411 WM-Punkte eingefahren. In seinem privaten Fitnessraum prangt ein Spruch Muhammad Alis an der Wand: „Gib nicht auf. Leide jetzt und lebe den Rest deines Lebens als Champion.“ Niki Lauda, Aufsichtsratsvorsitzender seines Teams, sagt: „Valtteri kann auf dem Niveau von Rosberg fahren.“ Und das Rosberg-Niveau ist bekanntlich weltmeisterlich. Aber auch Lauda weiß: Valtteri Bottas ist kein Macho, kein Ego, das für die Kinoleinwand gemacht ist.
Bottas ruht in sich selbst, bittet seinen Besuch höflich, die Schuhe vor dem Eintritt in sein Haus auszuziehen. Er spielt, sofern er die Zeit dafür findet, mit seinen alten Schulfreunden NHL-Eishockey auf der Playstation. Nach der Schule hat er Kfz-Mechaniker gelernt. „Das bot sich ja an“, sagt Bottas. Er sitzt mittlerweile in seiner Sauna und gießt Wasser auf die heißen Steine. Es faucht und zischt, es wird warm und wärmer. Sein früherer Klassenlehrer Ari Siltanen, 58, beschreibt ihn als ruhigen, konzentrierten Schüler: „Es gab sicher wildere Buben“, sagt er, „aber Valtteri hat immer erreicht, was er sich vorgenommen hat.“
Nach dem Training hatte Bottas an der Schnellstraße gehalten und eine Gaststätte besucht, die ihn einst gesponsert hat. Im „Lähde-Kioski“ hängen noch heute alte Fotos von ihm an der Wand und Zeitungsausschnitte der ersten kleinen Erfolge. 10, 15, 20 Jahre alte Fotos. Ein etwas dicklicher Junge mit blondem Haar in einem Kart. Schaut man auf den erwachsenen Bottas, lächelt er verlegen. „Ich hatte eine Zeit lang ein paar Kilos zu viel.“ Auf der Karte des „Lähde-Kioski“ steht der nach ihm benannte „Bottas“-Burger. Preis: sechs Euro. Geschmack: viel besser als erwartet. Vielleicht ist das Bottas’ größtes Plus: Niemand erwartet von ihm, dass er die Weltmeister Lewis Hamilton oder Sebastian Vettel in Grund und Boden fährt.
Aber wenn er sie mal schlägt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er somit auch Rennen gewinnt. Bottas steigt in zwei Schlappen, legt sich einen Bademantel um und geht aus dem Saunahäuschen Richtung See. Er setzt auf dem vereisten Boden vorsichtig einen Fuß vor den anderen, erlaubt sich keinen Ausrutscher. Als er vor dem Eisloch steht, fackelt er nicht lange. Kein Bibbern. Kein Johlen. Das Wasser umschließt seinen noch dampfenden Körper bis zur Brust. Der Kerl hatte noch nie Angst vor dem Sprung ins eiskalte Wasser.
Valtteri Bottas 1. Sieg
Video Mercedes-AMG Petronas F1
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