„Ich bin noch immer müde. Müder als normal.“

Herr Thomson, sind Sie ausgeschlafen?

Halbwegs. Aber ich bin noch immer müde. Müder als normal.

Immer noch? Sie sind seit sechs Wochen zurück an Land.

Nun ja, ich habe während der 74 Tage auf See nie mehr als eine Stunde am Stück geschlafen. Meist sogar weniger, 20 bis 40 Minuten alle zwei bis vier Stunden. Mehr nicht. Es dauert, wieder in den normalen Rhythmus zu kommen.

„Ich habe mit zwei Schlafforschern trainiert.“

Das hält doch kein Mensch aus.

Es geht bei so einem Rennen nicht anders. Du bist allein auf einer 18-Meter-Yacht unterwegs, die mit 60 Sachen durchs Wasser rauscht. Da gibt es zu tun.

Muss der Mensch dann nicht erst recht schlafen?

Das habe ich, nur in einem anderen Rhythmus. Ich habe das mit zwei Schlafforschern trainiert. Wir nennen sie die Schlafpolizei. Drei Wochen vor einem Rennen beginne ich damit, nur noch 20 Minuten alle zwei Stunden zu schlafen.

„Es ist wie ein Tiefenrausch.“

Schlafentzug war früher eine Foltermethode.

Der Körper muss sich daran gewöhnen, ohne Tiefschlafphase auszukommen. Und das geht. Aber sicher, so eine Regatta ist vor allem ein Kampf gegen die Müdigkeit. Du segelst die ganze Zeit am Rande der totalen Erschöpfung. Es ist wie ein Tiefenrausch beim Tauchen. Du hast eine einfache Rechenaufgabe, sagen wir: 45 geteilt durch neun. Das schaffst du nicht mehr, es will nicht mehr in deinen Kopf. Da ist alles vernebelt.

Haben Sie abgenommen?

Nach einem früheren Rennen hatte ich mal zehn Prozent meines Gewichts verloren. Nicht diesmal, ich hatte mehr zu essen mit. Trockennahrung in erster Linie.

„Keine Koje, kein Schrank, keine Spüle.“

Wie kochen Sie?

Das hier ist meine Küche (zeigt ein Handyfoto). Ein kleiner Gaskocher, that’s it. Ich mache Wasser heiß, rühre mein Essen an. Fertig. Das Boot ist brutal auf Leistung getrimmt, da kommt kein Gramm zu viel an Bord. Keine Koje, kein Schrank, keine Spüle. Die Toilette ist ein kleiner Karboneimer, designt, um noch bei über 50 Grad Schräglage nicht umzukippen. Eine schmale Matratze, die ich umherschieben kann, je nach Lage des Boots. Es ist ein Karbonsarg. Ich habe nicht einmal Musik an Bord.

„Ich muss exakt spüren, was das Boot macht.“

Keinerlei Zerstreuung zwischendurch?

Ich will nicht nur mit allen Sinnen bei der Sache sein, sondern auch mit meinen Gefühlen. Ich muss exakt spüren, was das Boot macht, der Wind, das Meer. Musik lenkt da nur ab. Es braucht sich nur ein Strang Seegras ums Ruderblatt zu legen, das spüre ich sofort.

Macht das auf Dauer nicht fix und fertig?

Ja, und ich kann ziemlich grantig werden da draußen. Ich schreie den Wind an, brülle in den Himmel.

Aber es gibt Methoden, sich positiv zu stimmen. Ich reibe mir zum Beispiel die Nasenwurzel, und diese Berührung hab ich mental verknüpft mit einem besonders schönen Erlebnis in meinem Leben. Ein mentaler Trick. Es dauert eine Weile, sich ihn anzueignen. Aber er funktioniert.

Für die Franzosen ist das Meer eine Frau, für die Italiener ein Mann. Hemingway bezeichnete das Meer als die „entzückendste Hure“, die er je getroffen hat. Was ist das Meer für Sie?

Meine Spielwiese.

„Das überlebst du nicht!“

Wie haben Sie für das Rennen trainiert?

Zehn Stunden Fitnesstraining pro Woche. Kondition, Kraft. Aber das mentale Training ist viel wichtiger für so einen Törn um die Welt. Ich habe dafür einen Sportpsychologen.

Und was macht der mit Ihnen?

Wir überlegten, was auf mich zukommen könnte. Wie würde ich mich motivieren, wenn etwas Fürchterliches passiert? Wie bewahre ich die Ruhe, wenn das Boot im Orkan und in zehn Meter hohen Wellen durch das südliche Polarmeer schießt und Tausende Seemeilen weit und breit niemand ist? Da schreit dich dein Hirn förmlich an und sagt: Das überlebst du nicht! Du wirst sterben! Aber es gibt Techniken, damit umzugehen.

„Ich projiziere meinen Blickwinkel in die Wolken.“

Welche?

Wenn man bei viel Speed unten ins Boot geht, ist das ziemlich angsteinflößend. Die Wellen schlagen auf den Rumpf, es kracht fürchterlich. Wenn es dann noch nachtschwarz ist und der Wind brüllt, bekommt der Mensch automatisch Angst. Das sitzt sehr tief. Ich nutze eine Technik der Visualisierung. Ich sehe mich selbst nicht mehr an Bord des Schiffs, wie ich im Cockpit sitze oder an Deck stehe. Ich projiziere meinen Blickwinkel in die Wolken. Betrachte das Geschehen aus einer übergreifenden Perspektive. Das hilft sehr, aber es dauert Monate, sich das anzutrainieren.

„Du bist voller Adrenalin.“

Was geschieht dabei genau?

Ich sehe das Boot tatsächlich von oben. Auch das Meer. Sehe, dass da keine Eisberge sind, keine treibenden Container, keine Wale. Das senkt den Adrenalinspiegel, denn du bist voller Adrenalin. Und das beruhigt wiederum den Puls. So kann ich etwas ruhen, schlafen. Vielleicht würde man sonst irgendwann verrückt werden.

„Ich musste durch ein tiefes Tal.“

Der Sieger des Rennens, Armel Le Cléac’h, war am Kap Hoorn 800 Seemeilen vor Ihnen, Sie holten später trotz gebrochenem Foil – einer Tragfläche – auf, bis auf 37 Seemeilen. Zum Schluss fiel auch noch Ihr Kollisionswarnsystem AIS aus. Wie geht man damit um?

Als das Foil brach, folgten 60 Tage der Frustration. Ich musste durch ein tiefes Tal. Ich fiel zurück, holte auf. Hinter der Kalmenzone am Äquator fehlte mir der entscheidende Wind. Es war zum Schluss klar: Nur Bruch bei Le Cléac’h hätte mir noch eine Chance beschert. Dennoch muss man in so einer Situation weiter an den Sieg glauben, um sich zu motivieren. Aber es war sehr unwahrscheinlich.

„Ich segele da raus, um meine Arbeit zu machen.“

Leute, die zu lange allein auf See sind, werden seltsam, heißt es. Sind Sie noch ganz normal?

Ich denke schon. Ich segele da raus, um meine Arbeit zu machen. Und ich bin ja nur ein kleines Rädchen in unserem Team, ich fühle mich keinesfalls einsam auf dem Meer. Überall im Boot habe ich Fotos von meiner Familie. Ich muss auch nicht immer Menschen um mich herum haben, um zu wissen, dass da jemand ist, der an mich denkt, der mich vermisst. Wie kann ich mich da einsam fühlen? Isoliert, das ja. Aber nicht einsam. Außerdem kann ich jederzeit über Satellit telefonieren. Vorausgesetzt, ich habe eine stabile Verbindung. Ich habe nur mal drei, vier Tage mit niemandem gesprochen.

„Man muss das Risiko immer neu einschätzen.“

Haben Sie Land gesehen?

Die Kapverden, Kap Hoorn, eine der Azoren. Das war’s. Auch nicht viele Schiffe. Ich habe nur südlich von Neuseeland auf dem Radar einen Fischtrawler gesehen. Ansonsten Meer und Himmel.

Und die Albatrosse.

Ja, in den südlichen Meeren sah ich sie jeden Tag. Und ich habe ein Ritual. Dem ersten Albatros, den ich sehe, gebe ich immer einen Namen. Ich nenne ihn George. Die riesigen Vögel bleiben manchmal wochenlang beim Boot. Fliegen neben dir her, übers Boot hinweg. Wunderbar.

Sichern Sie sich, wenn Sie an Deck gehen?

Ich versuche so selten wie möglich an Deck zu gehen. Jede Situation ist anders, und man muss das Risiko immer neu einschätzen. Die Höchstgeschwindigkeit lag bei 37,2 Knoten, fast 70 km/h. Da bleibt nichts mehr an Deck, wenn dich eine Welle erwischt. Die Beschleunigung ist enorm, auch das Abbremsen, wenn das Boot in die Wellen eintaucht. Du wirst niedergerissen und im Boot umhergeschleudert. Wie beim Rugby. Ich trage einen gepolsterten Helm, wenn ich bei Speed unter Deck gehe.

„Man ist auf See allein.“

Was war die raueste Situation?

Es wehten 40 Knoten Wind, Böen mit 50 Knoten, also gut zehn bis elf Windstärken. 1.300 Seemeilen südlich von Tasmanien liefen sieben Meter hohe Wellen, das Wasser hatte um die null Grad. Im Windchill herrschten minus 15 Grad. Bitterkalt.

Riskiert man bei der Vendée Globe sein Leben?

Man ist auf See allein. Letztendlich riskiert man potenziell jedes Mal sein Leben, wenn man in ein solches Rennen hinaussegelt. Aber so denke ich nicht, sonst würde ich das alles nicht tun.

„Ein Geschenk, so etwas erleben zu dürfen.“

Warum machen Sie das? Was treibt Sie?

Diese Art des Segelns ist eine sehr besondere Herausforderung. Es gibt viel mehr Menschen, die im Weltraum waren, als Segler, die in einer Regatta allein um die Welt gesegelt sind. Ein Geschenk, so etwas erleben zu dürfen. Und dann ist da der Wettkampf. Es so gut wie möglich zu schaffen. Das Boot zu beherrschen, dem Meer zu trotzen. Es ist eine Begegnung mit dir selbst. Mit den Elementen.

„Ich liebe Boote.“

Gibt es noch einen anderen Ansporn?

Das ist mein Boot. Ich liebe Boote. Eine IMOCA 60 class, 18 Meter lang. Eine Rennmaschine. Das Boot ist für mehrere Millionen Dollar eigens für mich konstruiert worden. Ich konnte alles bestimmen. Breite, Größe, Höhe, die Segel. Das Cockpit. Ist das nicht ein Traum?

Das allein kann es nicht sein.

Nein, Boote haben noch eine andere Eigenschaft, egal, wie groß. Wenn sie dich aufs Wasser hinaustragen und du irgendwann kein Land mehr siehst, wird dir bewusst, wie klein du bist. Das ist eine Erfahrung von Demut. Da ist nur noch die Natur.

„Nur noch Meer. Das war zu viel.“

Sie reden viel vom Wettkampf. Erleben Sie da draußen auch noch ganz andere Momente?

Ich erinnere mich an die Vendée Globe 2004. Als ich da das erste Mal ganz allein auf dem Atlantik war, hat mich die Situation überwältigt. Ich dachte: 90 Tage nur noch dieser Anblick. Nur noch Meer. Das war zu viel. Ich legte mich ins Cockpit und nahm dort, wahrscheinlich unterbewusst, die Position eines Fötus ein. Ich rollte mich komplett zusammen.

„Ein großer Test physischer und mentaler Stärke.“

Es gibt auch Segler, die sagen, es sei verrückt, solche Regatten zu bestreiten.

Ich glaube, wir bringen unsere Persönlichkeit nur auf eine andere Ebene. Rennen wie die Vendée Globe sind ein extrem pures Ereignis. Du darfst nach dem Start nichts mehr mit an Bord nehmen, kein Land mehr betreten. Null Hilfe von außen. Ich glaube, dass dies die größte sportliche Herausforderung ist, die es auf der Welt gibt. Ein großer Test physischer und mentaler Stärke.

Hatten Sie einen Talisman dabei?

Ja, „Speedy, the Turtle“. Eine Stofftierschildkröte, mein Sohn gab sie mir mit.

„Ich glaube, dass Glück dich erfolgreich macht.“

Haben Sie aus Ihren Törns etwas gelernt, das Sie vorher noch nicht wussten?

Ich habe in meinem Leben 400.000 Seemeilen hinter mir. Neun Versuche, um die Welt zu segeln. Ich habe dabei sehr viel gelernt. Es liegt in der Natur des Menschen, der Beste sein zu wollen. Der beste Fotograf, der beste Fußballer, der beste Segler. Die meisten Leute glauben dabei, dass der Erfolg sie glücklich macht. Ich aber sehe das inzwischen anders. Ich glaube vielmehr, dass Glück dich erfolgreich macht. Ich strebe heute also vor allem danach, mich gut zu fühlen. Und verstehe jetzt, dass Erfolg nicht immer nur in den Resultaten geschrieben steht. Es geht um die Reise.

Und diese Reise muss schwer und hart sein, sonst bedeutet sie nichts. Am Ende geht es um eine Kraft, die im Leben zählt wie auf See oder sonstwo. Es ist die Kraft, weiterzumachen. Es ist die Kraft, niemals aufzugeben.

Werden Sie die nächste Vendée Globe wieder segeln? Das fünfte Mal allein um die Erde?

Ich war Dritter, diesmal Zweiter. Es wird Zeit, den Kreis zu schließen.

Weitere Informationen.

Ozeanriese Website Alex Thomson

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