Wenige Handgriffe.

Hat sich wirklich jemand kürzlich darüber beschwert, dass Formel-1-Autos so leise geworden sind? Es ist kurz vor Mittag, und auf dem Gelände von Mercedes-AMG Petronas Motorsport in Brackley erfüllt kraftstrotzender Motorensound eine Lagerhalle. Ohrstöpsel müssen sein, dimmen ihn auf ein erträgliches Maß. Bevor die Mannschaft nachher zum nächsten Rennen abreist, hat Chefmechaniker Matt Deane, 44, noch mal ein Boxenstopptraining angesetzt. Wenige Handgriffe, Hunderte Male schon gemacht. Aber wer einen Reifen innerhalb von gut zwei Sekunden wechseln will, kann das gar nicht oft genug üben. Auf einem Monitor sieht Deane exakt, welcher seiner Leute wie lange braucht. In der Formel 1 geht es immer um Tausendstelsekunden. Auch für die Crew.

Über 1.500 Menschen arbeiten an drei Stand­orten für Mercedes-Benz bei der Formel 1 – und dürfen sich am Erfolg mitverantwortlich fühlen.

Ein Mechaniker prüft das Fahrzeug kurz vor dem Rennen. Es geht nicht um scharfe Hierarchien, sondern um lösungs­orientiertes Denken.

Etwas von einer Sinfonie.

In den Regalen stapeln sich Kisten und Paletten, in der Ecke stehen Sichtblenden, Behälter auf Rollen, Container. Einer der Mechaniker sitzt im Cockpit des Boliden; er fährt aus dem gleißenden Sonnenlicht in die Halle, der Motor heult auf, die druckbetriebenen Schrauber donnern, die Wände werfen das Echo zurück. Ein Mechaniker demontiert das Rad, der andere reicht das neue an, ein paar Mal rumst es, und der Wagen ist abfahrbereit. Man betrachtet die traumwandlerische Synchronität der Bewegungen und würde diese Szene gern mal in Superzeitlupe sehen, mit klassischer Musik unterlegt; das würde gut passen zum orchestralen Charakter. So ein Boxenstopp hat etwas von einer Sinfonie.

Smells like Team Spirit.

Während es früher in den Garagen nach Öl und Abgasen roch, gilt heute: smells like Team Spirit. Ein Rennfahrer ist immer nur so gut wie die Mannschaft, die ihn umgibt. Die Ingenieure, die sein Auto konstruieren, die Mechaniker, die es am Laufen halten. Gut 1.500 Mitarbeiter­innen und Mitarbeiter arbeiten an drei Standorten für Mercedes in der Formel 1, und genau das ist die Herausforderung, um Champion zu werden, Champion zu bleiben: 1.500 Individuen zu einer Einheit zu verschmelzen, die für ein gemeinsames Ziel arbeitet. Jeden Tag. Die Formel 1 ist ein technologisches Zukunftslabor, tatsächlich aber kann sie über den Sport hinaus als Vorbild dienen: für Strukturen, Prozesse, Führungskultur.

Hartes Training aller Abläufe gehört zu den entscheidenden Voraus­setzungen – ein Sieg hängt von unzähligen Faktoren ab.

Vier Titel in der Fahrer­wertung holte Teamchef Toto Wolff allein zwi­schen 2014 und 2017 – auch dank seines modernen Führungsstils.

Fundament dieser Siege.

Natürlich werden Rennen weiterhin auf der Strecke gewonnen. Das Fundament dieser Siege entsteht derweil in der Motorenschmiede in Brixworth, in der Stuttgarter Zentrale und eben in Brackley. Mannschaftsgeist ist ja gewöhnlich etwas Abstraktes, aber hier in der Formel-1-Fabrik wird er greifbar. Durch Toto Wolff zum Beispiel. Er ist Teamchef und geschäftsführender Gesellschafter. Und auch wenn er eine der wenigen leitenden Führungskräfte mit eigenem Büro ist, so trennen ihn nur eine Glasscheibe und einige elegante Sideboards vom Großraumbüro. „Das war eine bewusste Entscheidung“, sagt Wolff, 44. „Es gibt immer wieder Gespräche, die ich nur hinter verschlossenen Türen führen kann, aber ich will auch größtmögliche Transparenz.“ Am liebsten sitzt er mit Laptop draußen bei den Kollegen.

Empowerment.

Wolff ist im Januar 2013 in die Firma eingestiegen, bis zu dieser Saison hat Mercedes vier Titel in der Fahrerwertung geholt und ebenso viele bei den Konstrukteuren. Und wenn man in Brackley herumfragt, wie das möglich ist, in dieser High-Performance-Welt dauerhaft an der Spitze mitzufahren, landet man sehr schnell bei dem Begriff „Mindset“, was mit „Geisteshaltung“ wohl am besten übersetzt ist. Wolff steht für moderne Führungsprinzipien und es ist ihm etwas gelungen, was einer Kulturrevolution nahekommt. Noch vor Kurzem ging es in der Formel 1 – was die Hierarchie betrifft – zu wie in vielen führenden Wirtschaftsunternehmen: Die Kommunikationswege waren sehr klar und strikt geregelt. „Das war ein anderes Zeitalter damals“, sagt Wolff, das Zeitalter der steilen Hierarchien. Er spricht lieber von Schwarmintelligenz, was zwar weiterhin bedeutet, dass einer den Kurs bestimmt. Es kommt heute allerdings darauf an, wie er die anderen mitnimmt. Toto Wolff war selbst ein erfolgreicher Rennfahrer, aber mehr noch als für Technik interessiert er sich für Menschen.

Er sagt: „Ich selbst kann keine aero­dynamische Fläche designen, aber ich beschäftige mich mit dem Leben desjenigen, der es kann. Und ich versuche, ihn so gut wie möglich zu unterstützen.“ Wolff spricht von „Empowerment“, auf Deutsch: „Stärkung“. Noch so ein Schlüsselbegriff. In der Menschheits­geschichte sind viele Imperien an sich selbst gescheitert, an Hybris oder Schlendrian. In der Motivations­forschung nennt man dies das „Paradoxon des Erfolges“. Toto Wolff erzählt, dass sie dieses Phänomen exakt analysiert haben. „Du musst deine Erwartungshaltung sinnvoll managen und respektieren, dass auch in anderen Teams intelligente Menschen arbeiten“, sagt er. „Es gibt kein Anrecht auf Siege, du musst sie dir erarbeiten. Und dazu gehört vor allem Demut.“ Das ist eine Art Mantra für das Team.

Team Spirit auch hinter den Kulissen: Hier jubeln Lewis Hamilton und Landsleute beim „Engineering Briefing“ über ein Tor Englands bei einem Länderspiel.

Da glauben sie an die Physik.

Als die deutsche Nationalmannschaft im Sommer bei der Fußball-WM früh ausschied, trösteten sich viele Fans des Weltmeisters damit, dass Spaniern, Italienern und Franzosen schon Gleiches widerfahren ist. Es ging die Rede um vom Titelverteidigerfluch. In der Formel 1 gibt es weder Schicksal noch Zufälle. Da glauben sie an die Physik, nicht an die Metaphysik. Es geht darum, auf jede Situation vorbereitet zu sein. Das ist der Job von James Vowles.

Strukturen und Prozesse.

Vowles, 39, ist der Chefstratege des Teams, und er hat nicht bloß einen Plan B im Kopf, sondern dermaßen viele Optionen, dass dafür das Alphabet nicht ausreicht. „Negative Überraschungen machen dich hektisch“, sagt er. Und weil Hektik selten hilfreich ist, spielt Vowles vor einem Rennen sämtliche denkbaren Szenarien durch. Er sagt: „Pläne sorgen für eine Struktur im Gehirn. Das führt dazu, dass sich das Gehirn an diese Situation erinnert, wenn tatsächlich etwas Ähnliches eintritt. Das beruhigt.“ Strukturen und Prozesse, dazu ein gemeinsames Wertesystem. Das ist der wichtigste soziale Klebstoff jeder erfolgreichen Organisation.

Vowles sagt, dass sie ein Miteinander geschaffen haben, das jeden Mitarbeiter wachsen lässt. Dazu gehören ­wöchentliche Feedbacks statt eines einzigen routiniert abgespulten Jahres­gesprächs. Und es geht um Ehrlichkeit. „Toto sagt, dass Fehler nicht akzeptabel sind, aber wenn sie doch ­geschehen, muss man offen dazu stehen und daraus lernen“, berichtet Vowles. Er erzählt, dass sie in ­ihren Analysen sogar auf Fehler stießen, obwohl sie ein R­ennen gewonnen hatten.

Der Hauptsitz von Mercedes-AMG Petronas in Brackley. Im Formel-1-Boliden bündelt sich die geballte Energie des Teams.

Konstruktiver Selbstzweifel.

In einer Sportart, in der Autos mit 300 km/h über die Rennstrecke fahren, ist Stillstand per se unverzeihlich. Und am Ende Erfolg auch eine Kulturfrage. Aldo Costa ist Engineering Director des Teams, ein Mann, der in 30 Jahren Formel 1 mehrfach an WM-Titeln beteiligt war. Costa, 57, spricht von einer „Siegeskultur“, zu der Leidenschaft und Hingabe gehören, klar, aber auch konstruktiver Selbstzweifel. Machen wir alles richtig? Müssen wir unser Personal anpassen, rotieren lassen? Solche Sachen.

See it, say it, fix it.

Sie haben ein System dafür etabliert, mit einer ziemlich griffigen Formel: see it, say it, fix it. Das bedeutet, dass jeder Mitarbeiter, ganz gleich auf welcher Ebene, die Pflicht hat, Dinge anzusprechen, die ihm auffallen. Costa sagt: „Wir sind an Lösungen interessiert, nicht daran, bei einer Niederlage Schuldige zu suchen.“ Der Punkt ist ihm ganz wichtig, und wer seine Biografie kennt, versteht auch, warum. Costa war einst technischer Direktor bei einem Gegner-Team. Doch als es nicht mehr ideal lief, wurde er trotz früherer Triumphe entlassen. „Es war eine der schwierigsten Phasen meines Lebens“, sagt Costa, „weil der Rausschmiss unberechtigt war. Köpfe rollen zu lassen, ist kein Erfolgsrezept.“

„Die Jungs operieren in Extremsituationen. Immer“, sagt Chef­mechaniker Matt Deane.

Dank an die Mannschaft: Im September 2018 gewinnt Lewis Hamilton im Silberpfeil den Großen Preis von Singapur – und jubelt nach dem Ziel erst mal mit seinen Kollegen.

Entbehrungsreiches Leben.

Keine politischen Spielchen, keine gegenseitigen An­schuldigungen – das sind für Costa die Faktoren, die Mercedes-AMG Petronas an die Weltspitze geführt und dort gehalten haben. Der Druck ist eh groß genug. Matt Deane, der Chefmechaniker, hatte davon erzählt, dass sie gut 200 Tage im Jahr unterwegs sind. Bei allem Glamour bedeutet dies auch ein entbehrungsreiches Leben. Und dann schauen einem Millionen Menschen zu, wie man innerhalb von zwei Sekunden einen Reifen wechselt. „Die Jungs“, sagt Deane, „operieren in Extremsituationen. Immer.“ Genau deshalb bietet das Formel-1-Team seinen Angestellten viele Programme an, darunter auch Achtsamkeits­seminare. Deane sagt: „Wir verlangen von unseren Leuten das Beste, also müssen wir auch das Beste für sie tun.“ Noch so ein Satz, der weit über die Formel 1 hinausreicht.

Weitere Informationen.

Mercedes-AMG Petronas Motorsport

Teil 1 der Formel-1-Serie

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