Eine fließende Bewegung.

Alles scheint normal an diesem warmen Tag am Monwabisi Beach. Glasgrüne Wellen laufen an den weiten Strand, und über Südafrika scheint die Sonne. Die Kinder tragen Neoprenanzüge, barfuß stehen sie am Spülsaum des Ozeans. Khanyisa Mngqibisa vom Volk der Xhosa, 26 Jahre alt, legt sich auf ein Surfbrett im Sand, paddelt mit den Armen, winkelt ein Bein an, schnellt hoch. „So müsst ihr es machen“, sagt sie in den Kreis der Kinder, die um sie herumstehen. „So richtet ihr euch auf dem Brett auf, eine einzige, schöne fließende Bewegung, und dann surft ihr die Welle.“ Die Kinder schauen sie an, drehen sich um zum Meer. Sich aufrichten, fließende Bewegungen. Surfen. Was nur erzählt diese Frau?

„Schnappt euch die Boards.“

„Und jetzt ins Wasser mit euch, schnappt euch die Boards“, sagt Khanyisa, die alle hier Khanye nennen. Khanyisa Mngqibisa, die sich erst vor acht Jahren das erste Mal zu schwimmen traute, die lernte, sich in einem Alter über Wasser zu halten, in dem andere Teenager ans Studieren denken, an Reisen, womöglich an so etwas wie Auslandsjahre. Khanye mit ihren nassen kurzen Haaren, die bald immer weiter und immer besser schwamm, die heute Rettungsschwimmerin ist und Surflehrerin und inzwischen ein Online-Studium absolviert. Was hat das Meer mit ihr gemacht? Welche Kraft besitzt das Wasser? „Wenn eine größere Welle auf dich zukommt, spürst du diese Angst“, sagt Khanye, „aber du musst die Herausforderung annehmen, und irgendwann surfst du die Welle.“

Du bleibst an der Oberfläche.

Khanyisa Mngqibisa sagt solche Sätze ohne Pathos. Sie sagt: „Die Wellen sind das eine, das Leben ist das andere. Wo ich herkomme, kannst du jederzeit ermordet werden.“ Erschossen, ausgeraubt, vergewaltigt. „You name it“, sagt sie. Jedes der Kinder hier hat schon gesehen, wie Menschen getötet werden. Kinder? Ja, Kinder. Zu zweit schnappen sie sich jetzt die Surfboards, Bukho, Noxolo, Fundiswa und all die anderen. Eine ganze Traube von Jungen, Mädchen und Teenagern, die heute an den Strand gekommen sind, um zu surfen. Aber das Surfen ist hier nur so eine Art Metapher. Du wagst dich ins Meer, aber du säufst nicht ab. Du bleibst an der Oberfläche. Du reitest die Welle, die Angst – und du schaffst das. Die Kinder kommen aus den Townships Südafrikas, aus den sozialen Brennpunkten Kapstadts. Nachbarschaften, die als die brutalsten der Welt gelten. Man kann versuchen, das in Zahlen zu begreifen. Menschen westlicher Gesellschaften müssen im Schnitt vier bis fünf traumatische Erlebnisse in ihrem Leben bewältigen. Der Tod eines Familienmitglieds, Krankheit, ein Unfall oder Überfall.

Diese Kinder hier kommen auf vier bis fünf traumatische Erlebnisse – alle sechs Monate. Es geht also schon früh los. Die ersten Wunden würden, sagt Khanyisa, viele schon mit zwei, drei Jahren davontragen. Dann kommen die Narben auf der Seele. Die Traumatisierung. 30 Kinder im Meer. Viele machen das gut, toben in der 15 Grad kalten Brandung. Sie flutschen auf die Boards, fließende Bewegungen. Andere stehen im hüfttiefen Wasser, schwer vor Bedenken. Sie können nicht schwimmen, müssen erst noch lernen, dem Meer zu vertrauen. Vertrauen, wieder so eine unbekannte Vokabel für die meisten hier. Sie waren noch nie am Strand, obwohl die Township nur 500 Meter entfernt liegt, doch der Weg zum Meer kann gefährlich werden, Gangs kontrollieren hier die Straßen. Hochnäsig über dem Ozean und dem Beach von Monwabisi fliegt eine 747 den Kapstadt International Airport an. Die Düsen sind zu hören, das Geräusch des Unerreichbaren.

Wunden heilen.

100 Meter den Strand entlang, hinter einem verfallenen Pavillon, stehen einige Container in der Sonne. Eine Flagge weht, auf einem Gaskocher macht eine ältere Dame Mittagessen für die pitschnassen, fröstelnden Kinder. Für jeden eine Schale Reis, Erbsen, getränkt in Fischsauce. Auf einem Container stehen die Worte „Waves for Change“. Es ist der Name des Projekts, das versucht, Wunden zu heilen, kleine Wunder zu bewirken. Der englische Unternehmer Tim Conibear richtete 2009 in Masiphumelele bei Kapstadt eine erste Anlaufstelle für Kinder aus der nahen Township ein. Er wollte mit den Jugendlichen surfen gehen. Die ersten kamen, zaghaft, skeptisch. Doch die Idee sprach sich herum, und bald wurden es mehr. Sogar Mädchen.

Die Magie des Wassers.

Conibear fand ausgebildete Sozialarbeiter, mutige Frauen und Männer, die seine Idee unterstützten. Sie trieben alte Surfboards auf, stellten immer mehr Kinder auf die Bretter und gaben dem Projekt den Namen „Waves for Change“. Vom Schaffen großer Perspektiven würde hier niemand reden, wohl aber vom Versuch, die Magie des Wassers mit jungen Menschen zu teilen, für die selbst die Wellen vor ihren Baracken unerreichbar waren. Das Projekt wuchs, fand Beachtung. Heute, acht Jahre später, hat die Idee Schule gemacht und wurde von der Laureus Sport for Good Foundation ausgezeichnet. Mithilfe der Organisation, die Mercedes-Benz maßgeblich unterstützt, kann Waves for Change immer mehr Kindern bieten, was sie hier eine Surf-Therapie nennen.

Waves for Change.

In der Provinz Westkap gibt es heute drei Stationen von Waves for Change, zwei weitere in East London und Port Elizabeth, eine erste Basis wurde im fernen Liberia eröffnet. In Kapstadt zieht das Surfen inzwischen mehrere Hundert Kinder regelmäßig an die Strände. In bunten Bussen holen sie die Kinder aus den Townships ab. Khayelitsha, Lavender Hill, Masiphumelele. Parallelwelten im südlichen Afrika. Meere aus Blechbarracken und Holzverschlägen. Slums, die oft ohne Wasser auskommen müssen, ohne Kanalisation. Direkt neben den Highways beginnen die „Ganglands“, die gesetzlosen Viertel, in denen über eine Million Menschen leben. Darunter fast eine gesamte Generation verwaister Kinder, deren Eltern an Aids, Drogen oder durch Kugeln starben.

Die Flow-Theorie.

Unten am Meer versammeln sich die Kinder im Kreis um die Surfboards und die Lehrer. Sie gehen die Bewegungen durch, die wichtigsten Regeln beim Schwimmen im Meer. Die Luft riecht nach Salzwasser. Wie ein Wink der Ewigkeit brandet der südliche Ozean an das weite Land. Es gibt viele Studien über die heilende Wirkung des Wassers, über seine Kraft. Der Gang ins Meer ist immer auch ein Schritt ins Unbekannte. Ein archaisches Erlebnis, fern aller Worte und psychologischer Konstrukte. In letzter Zeit nutzt man die bewusste Begegnung mit dem Ozean immer öfter für eine Form der Heilung. Traumatisierten US-Soldaten beispielsweise, denen man zuvor mit Elektroschocks, Hypnose, Malen und Yoga helfen wollte, brachte eine kalifornische Studentin und Rettungsschwimmerin das Surfen bei. Die „Ocean Therapy“ von Carly Rogers basiert auf der Flow-Theorie des US-Psychologen Mihály Csíkszentmihályi und zeigte beachtliche Erfolge.

Über 1 000 traumatisierte Veteranen besuchten das Programm, darunter etliche Marines. Sie lernten Surfen. Und nach Monaten oder Jahren des Schweigens begannen einige erstmals wieder zu sprechen. Doktor Ozean. Doch Robyn Cohen, 48, und Ashleigh Hesse, 25, wissen, dass es so einfach nicht ist. Cohen ist die Landesleiterin von Waves for Change, Hesse managt das Training.

„Das Meer und der Sport sind ein wichtiger Katalysator“, sagt Cohen, die 30 Jahre lang in den Townships Jugendarbeit leistete und in Masiphumelele ein Heim für Waisen aufbaute. „Doch wir arbeiten hier mit schwer traumatisierten Kindern, das Surfen ist nur der Aufhänger, um tief sitzende Probleme anzugehen.“

Der Ernst des Lebens.

Auch Ashleigh Hesse, Lehrerin und ausgebildete Sozialarbeiterin, weiß, dass die Kinder nicht allein zum Reiten der Wellen kommen. Die Surflehrer besuchen die Kinder zu Hause und in der Schule, sie werden zu Bezugspersonen. Gemeinsam füllen sie mit den Kindern Fragenbögen aus, und darin geht es weniger um die perfekte Welle als vielmehr um den Ernst des Lebens. Die Kinder kreuzen an, warum sie beim Projekt mitmachen. Um sicher zu sein. Um zu reden. Um zu lernen, sich selbst zu mögen, sich zu beruhigen, Angst zu bewältigen. Viele kreuzen noch einen anderen Grund an, warum sie kommen. Einige der Kinder sehen aus, als seien sie gerade sechs, sieben Jahre alt. Doch in den Surfkursen hier sind alle mindestens zehn. „Hunger“, sagt Ashleigh Hesse. „Viele haben so wenig zu essen, dass sie langsamer wachsen.“

Vertrauen. Helfen. Hoffnung.

Unten am Strand steht die kleine Bukho, zwölf. Sie weiß nicht, wo sie geboren wurde. „Ich glaube, in Kapstadt“, sagt sie. Bukho zittert, das Wasser ist kalt, ihre weißen Zähne leuchten in der Sonne. Mit den anderen setzt sie sich jetzt in den Sand, in der Mitte Lunga Sidzumo, 34, der die Basis am Monwabisi Beach leitet. Nur ein paar Hundert Meter weiter, von den Dünen wie von einem Wall getrennt, beginnen die ersten Hütten von Khayelitsha, der größten Township Kapstadts. „Der Strand ist ein guter Ort“, sagt Bukho. Ein Ort, wo die Sorgen etwas an Gewicht verlieren, wo sich die See über alles erhebt. Gemeinsam sagen sie ein paar Losungen auf, sprechen im Chor die wichtigsten Sätze in die frische Luft. Es geht dabei um „emotional skills“. Vertrauen. Helfen. Hoffnung. Ziele haben und freundlich sein. Die Kinder sollen die positive Energie hier unten am Meer spüren, sollen sie mitnehmen. Bukho sagt, sie hat Muscheln gesammelt. Eine trage sie immer bei sich. „Wenn mal wieder etwas passiert“, sagt sie lächelnd, „dann halte ich die Muschel fest und denke an den Strand.“

Weitere Informationen.

Laureus Family. Laureus World Sports Awards.

Unangefochten – Die Geschichte der Beatrice Vio.

 

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