Die Athener, so sagt man in Griechenland, leben in ihrem eigenen Universum. Schon immer, nicht erst seit Beginn der Schuldenkrise. Am deutlichsten ist das wohl auf den Straßen zu beobachten. Der Verkehr folgt gern individuellen Regeln und nicht jenen der allgemeinen Straßenverkehrsordnung.
Als wir den Start-up-Gründer Orestis Matsoukas, 33, und seine Mitarbeiterin Elena Palpani, 22, also baten, uns mit einer Mercedes-Benz A-Klasse die Stadt zu zeigen, waren sie zunächst überrascht. „Habt ihr eine Versicherung abgeschlossen?“, scherzte Orestis.
Der Chef der 2011 gegründeten Orama Group und Präsident des griechischen Verbandes junger Unternehmer ist in Athen geboren und aufgewachsen. „Einen Steinwurf von der Akropolis entfernt“, sagt er. Seine Assistentin Elena arbeitet seit wenigen Monaten für die Orama Group. Nach einem Praktikum hat Orestis ihr einen festen Job angeboten. Feste Jobangebote sind in Athen etwa so selten wie dellen- und kratzerfreie Stoßstangen. Jetzt aber steht eine frisch polierte A-Klasse vor ihnen, ein A 180 d – bereit zum Einsteigen.
Liebe Elena, lieber Orestis, herzlich willkommen bei Mercedes-Benz! Wer fährt?
Orestis: Wenn du nichts dagegen hast … Elena: Mach ruhig. Du kannst gern hier in der Innenstadt Stop-and-go fahren, ich cruise lieber später am Poseidon-Boulevard am Meer entlang. Orestis: Oh, Mist! Daran hab ich gar nicht gedacht.
Elena lacht laut auf, öffnet die Beifahrertür und hüpft staunend auf den Sitz, breitet die Arme aus, kann aber das dunkle Armaturenbrett vor ihr nicht berühren.
Tja, liebe Elena. Auch Orestis nimmt Platz, studiert die Lenkradfunktionen, positioniert den Fahrersitz, blickt aufs Display. Dort erscheint sofort das Bild der Rückfahrkamera, als er den Rückwärtsgang einlegt.
Orestis: Toll! Wir haben hinten Augen! Elena: Bin gespannt, ob dir das weiterhilft.
Orestis überhört die Frotzelei. Er prüft lieber Scheibenwischer, Handbremse, Warnblinkanlage. Wahrscheinlich kann man ohne Übertreibung sagen, dass die Warnblinkanlage die wichtigste Funktion eines Autos im Athener Stadtverkehr einnimmt. Wer sie einschaltet, signalisiert, dass er aus unvorhersehbaren Gründen in den nächsten Sekunden abrupt bremsen wird. Orestis, im Notfall unterstützt dich dabei der Aktive Brems- Assistent! Er wirkt erleichtert. Sicherheitshalber drückt er noch die Hupe. Elena erschrickt.
Elena: Musste das sein? Orestis: Guter Sound, findest du nicht?
Als Orestis den Schlüssel umdreht, surrt der Motor des A 180 d sanft an. Wir befinden uns am Syntagma-Platz, wo sich die Athener treffen, um zu palavern, zu flirten – oder zu streiken. Unsere ersten Ziele heißen: Akropolis und Panathinaiko-Stadion. Orestis fädelt sich in den stockenden Verkehr ein. Als dieser nach ein paar Ampeln flüssiger wird …
Orestis: Ich bin noch nie in Athen Auto gefahren, ohne dass einen die Schlaglöcher quälen. Elena: Aber die Straße spürt man schon noch. Das finde ich auch gut.
Athener Bürger leben nicht einfach in ihrer Stadt, sie werden in ein von der Antike dominiertes Freilichtmuseum geboren. Und das prägt. Als Orestis und Elena zuerst vor der Akropolis und später am Stadion halten – Warnblinkanlage! –, verblüffen sie mit Detailwissen. Oder wussten Sie, dass im Akropolis-Museum ein originalgetreuer Nachbau des Parthenons das Zentrum bildet? Eben. Aber die beiden sagen solche Sätze nebenbei, am Auto lehnend. Athener lieben den nicht enden wollenden Dialog, sie sprudeln wie eine Quelle.
Und was ist ihre Meinung zum Design der A-Klasse?
Elena: Als ich das Auto heute Morgen das erste Mal sah, war ich überrascht. Ich hatte mich vorher mit dem Modell nicht so beschäftigt und eher ein konservativeres Bild im Kopf. Na ja, ein Auto für „ältere“ Leute, wenn ich das sagen darf. Aber das Design ist alles andere als zurückhaltend. Ich finde vor allem die Frontpartie mit den zur Mitte laufenden Linien ziemlich cool.
Orestis fährt mit dem Zeigefinger am Heck entlang.
Orestis: Diese Linie, die am Hecklicht ansetzt und über beide Türen nach unten und vorn verläuft: Das kenne ich echt von keinem anderen Auto.
Ihr beiden! Es ist mittlerweile schon nach Mittag. Wo gibt’s hier einen guten Gyros- oder Souflaki-Imbiss?
Orestis: Klar! Ich kenne den besten Souflaki-Laden der Stadt. Steig ein!
Die Fahrt führt um den Akropolis-Hügel herum nach Gazi – ein ehemaliges Industrie- und heutiges Ausgehviertel. Im „Kandavlos“ bestellt Orestis mehrere Souflaki zum Mitnehmen. Wenig später parken sie in einer Seitenstraße, beißen ins Brot, schwärmen von den engen Gassen Athens, vom Blick auf den Saronischen Golf, wo das Grau und Weiß des Häusermeers ins Blaue mündet. Auch ihre Fahrt soll dort enden. Elena übernimmt das Steuer.
Elena: Ist der Motor an? Ich höre ja kaum was! Orestis: Klar, du kannst los!
Auf der Syngrou tritt Elena zuerst vorsichtig, wenige Sekunden später sehr forsch aufs Gaspedal. Die Tachonadel erreicht rasch die erlaubten 80 Stundenkilometer, die Kurven nimmt sie rasant.
Elena: Juhuuu! Orestis: Bitte nicht so schnell, Elena! Elena: Unfassbar. Man hört den Wind gar nicht.
Orestis hat mit seiner rechten Hand nach der Armlehne gegriffen, um sich irgendwo festzuhalten. Aber er lächelt tapfer.
Elena: Ist ja gut, Chef, keine Sorge.
Erst als Elena das Tempo drosselt, entspannt sich sein Gesichtsausdruck. Die A-Klasse biegt auf die „Allee des Poseidon“ ein, die am Meer entlang über die Strand-Vororte Glyfada und Vouliagmeni bis ans Kap Sounion führt. Hier gäbe es unzählige Möglichkeiten für einen Stopp im Café. Orestis und Elena lassen die Fenster herunter, sie fahren jetzt schweigend. Aus den Lautsprechern läuft, vom Smartphone angesteuert, Mikis Theodorakis’ „Ein Schiff wird kommen“. Allerdings die Elektropop-Version der Band Imam Baildi. Und im Rückspiegel bleibt das alte Athen zurück.