Es ist noch viel zu tun.

Intelligente und zugleich sichere Fahrzeuge, die sich selbstständig durch den Verkehr bewegen – das ist die Vision des autonomen Fahrens. Was ist nach dem Stand der heutigen Technik schon möglich? Das testete ein Team von Mercedes-Benz in fünf Etappen auf fünf Kontinenten. Von September 2017 bis Januar dieses Jahres waren sie unterwegs, und wenn Teamleiter Jochen Haab nun vom Intelligent World Drive“ erzählt, verbirgt er seine Begeisterung nicht. Seine Kollegen und er staunten, bei wie vielen Aufgaben eine serienproduzierte S-Klasse mit ihren Assistenzsystemen den Fahrer heute schon im Verkehr unterstützen kann. Und zugleich begriff das Team: Es ist noch viel zu tun, überall warten auf die Entwickler komplexe Fragen, die es in den kommenden Jahren zu beantworten gilt.

„Die Idee war, dass wir das Auto in exemplarische Situationen bringen und so Erfahrungen sammeln“, sagt Haab. „Auf Basis der gewonnenen Daten können wir dann unsere Systeme weiterentwickeln.“ Ihre Reise begann in Frankfurt auf der IAA, führte über Shanghai nach Australien, Südafrika und in die USA. Jochen Haab schildert die Herausforderungen, denen sich die S-Klasse zu stellen hatte.

Frankfurt, Deutschland: „Wir erlebten Regen und Stau, Baustellen und rasante Fahrer. Alltag auf deutschen Autobahnen.“

Geschwindigkeitsunterschiede.

Die Besonderheit auf deutschen Straßen: die enormen Geschwindigkeitsunterschiede auf der Autobahn. Man fährt 130 km/h, überholt einen LKW, von hinten nähert sich schnell ein Auto mit über 200 km/h. Die Radare an Bord schauen 80 Meter nach hinten, 250 Meter nach vorne. Die Stereokamera sieht 500 Meter nach vorne, davon 90 Meter sogar in 3D. Reicht diese Leistungsfähigkeit? Wie viel Zeit bleibt dem System, um zu reagieren, wenn es das herankommende Auto registriert hat? Und wie würde es sich verhalten, um einen Unfall zu vermeiden? Der Anspruch der Kunden ist bereits heute: Das System soll nur dann entschlossen reagieren, wenn dies wirklich nötig ist.

Zebrastreifen auf der Autobahn.

Die hohe Verkehrsdichte, viele Zwei- und Dreiräder, vermeintliche Zebrastreifen auf der Autobahn (die in Wahrheit den Sicherheitsabstand anzeigen), eigene Tempolimits je Fahrspur: Das prägt den Verkehr in China. Bei den Fahrten durch Shanghai hat sich vor allem gezeigt: Es bedarf spurgenauer Kartendaten. Wenn mehrere Highways sich übereinander kreuzen, weiß das Auto derzeit nicht mehr, wo es sich befindet. Den großen Kreuzungen fehlt oftmals jede Fahrbahnmarkierung, die die Kameras erfassen könnten.

Das Auto kann sich ohne Umgebungsverkehr nicht positionieren und würde im Zweifel einfach geradeaus fahren. Was auch zu berücksichtigen ist: Von automatisierten Fahrzeugen wird hier erwartet, dass sie Kurven so fahren, wie dies Chinesen tun – noch in der Kurve bremsen und danach beschleunigen. Europäer beschleunigen schon in der Kurve wieder. Solche kulturellen Unterschiede werden für die Akzeptanz des autonomen Fahrens wichtig sein.

Melbourne, Australien: „Den berüchtigten Hook Turn vermeiden auch in Melbourne viele Menschen. Aber unsere Systeme müssen in der Lage sein, Lösungen zu finden.“

Kängurus, die unvermutet über die Straße springen.

Australien: blinkende Geschwindigkeitsbegrenzungen auf elektronischen Displays, die Roadtrains im Outback, Kängurus, die unvermutet über die Straße springen, und dazu das Rechtsabbiegen von der linken Spur in Melbourne – der „Hook Turn“, bei dem man erst über die Straßenbahngleise fahren darf, wenn der Querverkehr Grün hat. Was Menschen gute Nerven abverlangt, bedeutet für die Systeme eine hochkomplexe Herausforderung – auch viele Einheimische vermeiden dieses Manöver und biegen lieber dreimal links ab. Die blinkenden LED-Ringe, die das Tempolimit angeben, werden vom menschlichen Gehirn verarbeitet, die Systeme des Fahrzeugs aber sind noch überfordert. Ebenso knifflig: Wie kann das Auto in Zukunft zuverlässig auf Tiere reagieren, ohne die Passagiere zu gefährden? Hierbei geht es darum, die Dimensionen eines Objekts frühzeitig zu erkennen und sofort eine situationsangepasste Strategie abzuleiten, die einen Unfall vermeidet.

Überraschende Manöver.

Der Verkehr in Südafrika ist unübersichtlich: Fußgänger auch auf Schnellstraßen und überraschende Manöver mancher Fahrzeuge gehören zum Alltag. In Kapstadt erlebten die Testfahrer, wie ihnen bei 100 km/h auf der Autobahn ein Radfahrer auf dem Standstreifen, der nur wenige Zentimeter breit war, entgegenkam. Auf einer Serpentinenstraße südlich der Stadt bedeckten Sandverwehungen den Asphalt, die Kameras erkannten die Route nicht mehr. Die kurvige Küstenstraße vermochte das Fahrzeug hingegen beinahe von selbst zu steuern.

Kapstadt, Südafrika: „Die Technik darf sich nicht ablenken lassen, muss auch vermeintlich chaotische Situationen rasch richtig analysieren.“

Las Vegas, USA: „Der ruhig fließende Verkehr ist für das autonome Fahren fast ideal, der Alltagseinsatz ist aus technischer Sicht nicht weit weg.“

So kritisch wie enthusiastisch.

Auf den Freeways und Highways Amerikas geht es eher geruhsam zu. Man kann im Verkehrsfluss mitschwimmen, und es gibt selten hohe Geschwindigkeitsunterschiede. Allerdings liefern acht Freeway-Spuren nebeneinander viele Informationen, die es gleichzeitig zu verarbeiten gilt, dazu darf man rechts wie links überholen. Sicherlich aber ist der US-Markt geeignet, mit als Erstes die nächsten Stufen des automatisierten Fahrens einzuführen. Übrigens ähnelten in Amerika die Reaktionen der Menschen auf das Experiment den Reaktionen auf der ganzen Welt – die Leute stehen dem autonomen Fahren so kritisch wie enthusiastisch gegenüber. Ihre Sorgen und Fragen ernst zu nehmen, das war auch Sinn dieser Reise.

Weitere Informationen.

Die automatisiert fahrende S-Klasse im Einsatz

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