Das Gefühl, dass etwas nicht möglich sein könnte, verlässt uns. „Die Wissenschaft überholt die Science Fiction“, sagt Neil Gershenfeld, er leitet das interdisziplinäre Center for Bits and Atoms am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Forscher entwickeln hier Dinge wie Computer, die man aufmalen kann, mit Chips aus viskosen Flüssigkeiten – oder faltbare Elektroroller, die sich als neuer Klang in das Orchester moderner Mobilitätskonzepte einfügen. Vieles von dem, was heute alltäglich ist, hatte seinen ersten Auftritt in Literatur oder Kino – die bemannte Raumfahrt bei Jules Verne, das Smartphone als Communicator in Star Trek, geostationäre Kommunikationssatelliten bei Arthur C. Clarke.
Mit maschinellem Lernen, Klonschafen oder dem weltumspannenden Internet aber schreiben wir längst unsere eigene, reale Science-Fiction-Saga. Forschung und Ingenieurskunst verwandeln Zukunftsvisionen zunehmend schneller in Wirklichkeit. Das schildert auch William Shatner, besser bekannt als Captain Kirk, in seinem Buch „I’m Working on That: A Trek From Science Fiction to Science Fact“. Legendär: das Beamen. 1997 „ beamte“ die Arbeitsgruppe des österreichischen Physikers Anton Zeilinger in einem raffinierten Experiment erstmals Lichtteilchen. Und 2004 gelang zwei Teams der Universität Innsbruck und des National Institute of Standards and Technology in Colorado schließlich die Quantenteleportation mit Atomen, anders ausgedrückt: Es wurde tatsächlich Materie gebeamt.
Es ist, nebenbei, nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet ein Vertreter der fürs Gemütliche bekannten Österreicher eine Fortbewegungsmethode weiterentwickelt, bei der man sich quasi mit Lichtgeschwindigkeit bewegen kann, ohne sich von der Stelle rühren zu müssen. Der bei der Mercedes‑Benz Group AG für die Zukunftsforschung zuständige „Knowledge Engineer“ Alexander Mankowsky betreibt qua Job-Definition den Abgleich der Technikutopien mit unserer Realität – „schließlich leben wir ja bereits in der Zukunft“, sagt er. Neben den Visionen, die nicht eingetreten sind („Wo ist mein Düsenrucksack?“, fragt Mankowsky schmunzelnd), und denen, die sich nur zögerlich entfalten (Videotelefonie, Magnetschwebebahn, künstliche Intelligenz), ist für ihn naturgemäß die Kategorie am spannendsten, wenn einstige phantastische Ideen tatsächlich in greifbare Nähe rücken. Das autonome Fahren beispielsweise. Neuerdings liefert die wissenschaftliche Wirklichkeit sogar den kreativen Geistern ihre futuristischen Anregungen.
Science-Fiction-Autoren lassen sich von den Ideen von Forschern inspirieren, die wiederum mit Star Trek und Co. aufgewachsen sind und ihre Ideen daran geschult haben. Vormals kühne Entwürfe, etwa die direkte Kopplung von Computer und Gehirn, sind im Hier und Jetzt angekommen. Bereits 2004 erlaubte die US Food and Drug Administration den ersten klinischen Test, bei dem einem Gelähmten erfolgreich ein „Braingate“ genanntes Hirn-Computer- Interface in die für Bewegung zuständige Region der Hirnrinde implantiert wurde – über ein aus dem Schädel führendes Glasfaserkabel werden die Neuronen mit dem Computer verbunden. Mit dem Braingate lässt sich ein Rechner oder ein Roboterarm per Gedankenkraft steuern. Eine japanische Firma plant bereits eine gedankensteuerbare Modelleisenbahn.
1851 verwendete der britische Dichter William Wilson erstmals den Begriff Science Fiction; im selben Jahr veröffentlichte Jules Verne seine Kurzgeschichte „Ein Drama in den Lüften“ über eine Ballonfahrt. Neuen Fortbewegungsmitteln galt fortan ganz besonders die Aufmerksamkeit von Science-Fiction-Freunden. Auf Zigarettensammelbildern und Zeitschriftenillustrationen waren nun spektakuläre Entwürfe einer Welt zu sehen, wie man sie sich 100 Jahre später vorstellte – Zeppelinkutschen und fliegende Automobile, die an Landebalkonen von Wolkenkratzern festmachen, vielschichtige großstädtische Verkehrsströme, Magnetschwebebahnen und exotische Kommunikationsformen wie die drahtlose Bildübertragung. Im Jahre 1928 erschien in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ unter dem Titel „Wunder, die unsere Kinder vielleicht noch erleben werden“ ein Bericht, der bis heute nichts von seiner Frische verloren hat:
„Seit einigen Monaten hat es den Anschein, dass die Radio-Television, das heißt die Übertragung eines lebenden Bildes von einem Sender aus, im Laboratorium verwirklicht worden ist. In wenigen Jahren wird man bestimmt mit Hilfe eines Apparates, der drahtlos funktioniert und vielleicht Telephotophon heißen wird, seinen Partner zur gleichen Zeit sehen und sprechen hören. Und ‚Taschenmodelle‘ werden die Fortsetzung einer angefangenen Unterhaltung mit einem Freund auch auf einer Reise oder einem Spaziergang ermöglichen.“ Die Verwirklichung des Taschentelephotophons respektive Communicators in Gestalt des gesten- und stimmgesteuerten Smartphones zeigt auch, mit welcher bemerkenswerten Dynamik der digitale Wandel vonstattengeht. An manchen Stellen wird die Zukunft von der Gegenwart nicht einfach nur eingeholt, sondern weit übertroffen.
Der ganze Prozess der Veränderung hat sich verändert. Früher gab es einen Zustand, dann eine Veränderung und dann einen neuen Zustand. Jetzt ist Veränderung der Zustand. Es gibt im Übrigen einen wesentlichen Unterschied zwischen Science Fiction und Utopie – er hat zu tun mit der Schönheit von Zielen. Von unerreichbar hohen Zielen. Science Fiction befasst sich mit technischen Fragen, Utopie mit gesellschaftlichen und sozialen Entwürfen. Man kann Utopien mit der klassischen astronomischen Navigation auf See vergleichen. Es ist, wie wenn man nach dem Polarstern navigiert. Nur solange er weit genug entfernt ist, dient er der Orientierung. Käme man ihm zu nahe, würde er seine Funktion verlieren. Menschen brauchen Utopien. Auch die Wurzeln der Technikfaszination reichen tief.
So beschreibt der Kulturphilosoph Lewis Mumford die verblüffende Ähnlichkeit zwischen einer altägyptischen Mumie und einem Astronauten in seinem Raumanzug, beide mit immensem Aufwand ausgerüstet für eine Reise in die Unendlichkeit. Manche Visionen aber erweisen sich im Lauf der Geschichte als Irrwege. Während kleine Roboter wie der Mars-Rover „Curiosity“ grandiose Erkundungsleistungen in unserer kosmischen Nachbarschaft vollbringen, erweist sich die bemannte Raumfahrt immer mehr als astronomisch teuer, ineffizient und risikoreich – ganz wie die Nukleartechnik, die früher mit heute atemberaubend erscheinender Naivität als Lösung des Energieproblems willkommen geheißen wurde. „Für menschliche Siedlungen bieten Atomkraftwerke den großen Vorteil, dass sie keine rauchenden und rußenden Schlote haben“, schreibt Professor Robert Havemann 1955 unter dem Titel „Ein neues technisches Zeitalter bricht an“.
Und folgert: „Man kann also Atomkraftwerke auch im Zentrum von Großstädten errichten.“ Auf der grünen Wiese vor den Städten breiten sich heute indes zunehmend die riesigen Hallenlandschaften der Datenkraftwerke aus, in denen der Handel und Wandel der digitalen Welt stattfindet. Von den drei Großtechnologien Raumfahrt, Kernkraft und Internet, mit denen das 20. Jahrhundert die Jahrtausendwende ansteuerte – das verheißungsvolle Jahr 2000 –, bleibt nur mehr das Internet als globale Leitströmung. Das Netz ist gewissermaßen die Demokratisierung der Raumfahrt. Durften bisher nur eine Handvoll jahrelang trainierter Astronauten mit millionenteuren Tickets in den Raum reisen, so hat sich jetzt mit dem Internet die Reise in die Unendlichkeit nach innen gewandt. Nun dürfen wir alle mitfliegen in den Cyberspace. Und mitfahren. Gerade wird das Netz einer grundlegenden Erneuerung unterzogen, um es auf die ausladenden Konnektivitätsanforderungen autonomer Fahrzeuge vorzubereiten.
Zahlreich wie Sauerstoffmoleküle werden sich in den kommenden Jahren Sensoren, Aktuatoren und Elektromotoren in einem Internet der Dinge um uns herum bewegen und das Netz in eine neue Umweltbedingung verwandeln. In eine Sofortmaschine, die nicht nur in der Lage ist, massive Datenströme zu verarbeiten, sondern die einen neuen Betriebszustand für das Netz festlegt, der früher in Kinderbüchern Zauberei hieß: Das Netz wird magisch. Eine womöglich utopische, aber innovationsmächtige Herausforderung: dass Wunsch und Wunscherfüllung im selben Moment geschehen, ohne Verzögerung. Zugleich aber ermöglichen die kooperativen Funktionen künftiger selbststeuernder Gefährte – das Prinzip der visuellen und akustischen Kommunikation mit seinem Umfeld demonstriert das Konzeptauto F 015 von Mercedes-Benz –, dass die Menschen handlungsfähig bleiben. Weil sie die vernetzten Maschinen verstehen.
Die spektakulären Utopien von Chief Design Officer Gorden Wagener
Zukunft der Mobilität – 1902 und heute