Manchmal genügt ein Handgriff, um technologischen Fortschritt zu spüren. In der Zentrale von Mercedes-AMG Petronas Motorsport in Brackley lässt sich das direkt erleben. Hinter Türen, die sich nur mit kodierten Karten öffnen lassen, bearbeiten Angestellte in dunkler Teamkleidung feingliedrige Gegenstände; dabei tragen sie Handschuhe, Sicherheitsbrille – und manchmal sogar Atemschutzgerät. Man kann sie im Erdgeschoss durch kleine Fenster beobachten und stellt fest: Dies ist nicht bloß eine Rennwagenfabrik, sondern ein Zukunftslabor.
Klinische Bedingungen: In Brackley geht es wie in einem Labor zu, gefragt ist Hochpräzision.
Feiner Nebel: Ein Mitarbeiter schützt sich vor dem Spray, das er über Teilen des Rennwagens versprüht.
Die Flure sind so sauber wie in einem Krankenhaus, ein Fahrzeug-Unterboden aus Carbon lehnt an der Wand, daneben Boxen mit Equipment, alle paar Meter Regale, in denen ältere Bauteile ausgestellt sind. „Fass sie ruhig mal an“, sagt ein Mitarbeiter und deutet auf eine Radmutter, Jahrgang 2013. Er sagt: „Und jetzt nimm diese, die kam nur zwei Jahre später.“ Sie wiegt nicht mal die Hälfte. Wenn so ein banales Detail schon einen großen Schritt darstellt, bekommt man eine Ahnung, in welchem Tempo sich die Entwicklung des gesamten Autos vollzieht.
Ein Rennwagen ist immer nur ein Prototyp, work in progress, eine Woche später wird er ein anderer sein. Stillstand bedeutet in der Motorsportwelt nichts anderes als die unerbittlich nahende nächste Niederlage. Die Formel 1 ist Unterhaltungsbetrieb und Hightech-Sport gleichermaßen, aber vor allem auch Forschungsstätte für innovativen Automobilbau. Die Boliden sind gewaltige Datenstaubsauger, und Materialien und Mechanik werden unter Extrembedingungen erprobt und in Echtzeit virtuell analysiert.
Maßarbeit: Die Anforderungen an die Bauteile sind enorm, die Toleranzen bewegen sich im Mikro- und Nanometer-Bereich.
Kurz mal Kraft tanken: das internationale Spezialistenteam bei der Mittagspause.
Seit sich Mercedes mit einem eigenen Team engagiert, fließt Know-how in beide Richtungen – aus der Stuttgarter Zentrale nach Brackley und zurück. Tatsächlich hat sogar die Lkw-Sparte von Mercedes-Benz ihren Anteil an vier aufeinanderfolgenden WM-Titeln in der Formel 1. Vieles, was in Alltagsautos zum Standard gehört, entstammt dem Rennsport. Allradantrieb, Gasturbinen, elektronische Kupplungen oder aktive Radaufhängung zum Beispiel, mobile Datenaufzeichnung, Bauteile aus Aluminium und Titan. Ein Werkstoff wie Kohlefaser fand aus der Luft- und Raumfahrttechnik über die Formel 1 in den Fahrzeugbau. Zuletzt kam 2009 ein System wie Kers hinzu, das Rekuperationsenergie nutzt, um dem Verbrennungsmotor einen zusätzlichen elektrischen Schub zu verpassen.
Der wohl beste Hybridmotor der Gegenwart stammt aus Brixworth, gut 50 Kilometer von Brackley entfernt. Mercedes-AMG High Performance Powertrains – ein Firmenname als klare Zielvorgabe. Geschäftsführer Andy Cowell, 49, baut hier mit seinem Team von 500 Leuten an einem Triebwerk, das insgesamt mehr als 735 kW hat. Die genaue Zahl ist Betriebsgeheimnis. Kers, sagt Cowell, war technologisch nur der Anfang, mit einer eher milden elektrischen Unterstützung von 60 kW. Das heutige System produziert doppelt so viel Kraft an der Hinterachse und speist sich aus zwei Quellen: der Bremsenergie und der Hitze des Turboladers. Effizienz ist Andy Cowells Lieblingswort, das Mantra seines Jobs.
Er sagt: „Die Formel 1 ist eine der besten Plattformen der Welt, um die Effizienz von Maschinen und Systemen zu optimieren. Das wird auch die Elektrifizierung vorantreiben.“ Seit auch im Rennsport Ressourcenverantwortung und Nachhaltigkeit Maßstab sind, müssen die Teams die Saison mit nur drei 1,6-Liter-Motoren bestreiten. Lebensdauer ist elementar. Nachtanken verboten. „Wenn du dir also Gedanken um die Reichweite machst“, sagt Andy Cowell, „dann musst du dafür sorgen, dass die Effizienz aller Elemente so hoch wie möglich ist.“
Hightech hat immer noch etwas mit der sicheren Hand von Feinmechanikern zu tun.
Nun geht es darum, den Verbrenner und die Elektromodule so harmonisch miteinander zu verbinden, dass der Fahrer gar nicht merkt, ob sein Wagen elektrisch oder von Benzin angetrieben wird. Nach heutigem Stand, sagt Cowell, bedeute die Verbindung aus Elektro- und herkömmlichem Motor „die perfekte Ehe“: die Batterie für den Start an der Ampel oder das Beschleunigen beim Überholen, der Verbrenner für die Reisegeschwindigkeit. Das funktioniert in einem Plug-in-Hybrid ähnlich wie im W09 EQ Power+ von Lewis Hamilton. Und genau deshalb war auch die Unterstützung der Lkw-Sparte so wichtig. Von deren Wissen im Umgang mit Turboladern haben sie in Brixworth sehr profitiert.
Viele ähnliche Fragen treiben hier wie da die Ingenieure um. Effizienz ist das eine, Umgang mit Daten das andere. Geoff Willis, 58, ist der Director of Digital Engineering Transformation, das Superhirn in Sachen künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen. Weißes Haar, dunkle Chinos, so sitzt er in einem gläsernen Besprechungsraum in der F1-Zentrale. Nebenan, ein paar Schritte nur, schaut man auf Prüfstände hinunter, an denen seine Leute alles simulieren können, was so einem Rennwagen widerfahren mag. Der Windkanal liegt keine 300 Meter entfernt auf dem Werksgelände. Geoff Willis sagt: „Die digitale Welt ist die treibende Kraft der Gegenwart. Wir operieren hier im virtuellen Raum, können aber an der Rennstrecke die Daten in der Realität validieren.“
Geoff Willis ist verantwortlich für den Einsatz von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen.
Die virtuelle Welt ist für die Königsklasse des Motorsports unverzichtbar.
Wie sehr Rennsport und Fahrzeugindustrie kooperieren, wird in der Entwicklung deutlich. Supercomputer ermöglichen komplexeste Simulationsmodelle: Wie verhält sich ein Auto in welcher Situation? Der Unterschied ist das Ziel: Im Straßenverkehr geht es um Bequemlichkeit und Sicherheit. In der Formel 1 zählt nur eines, schiere Performance.
Wer in den 90er-Jahren mal in die Box eines Rennteams blicken durfte, glaubte, die Zukunft zu sehen. In bunten Kurven zeigten Monitore die Telemetriedaten, wenn das Auto kreiste. Aus heutiger Sicht wirkt das wie eine Erinnerung ans digitale Mittelalter. Der sogenannte Race Support Room ist eine Mischung aus Hörsaal für 30 Leute und Ground Control bei der Nasa. Hier sitzen an den Rennwochenenden jene Ingenieure, die nicht mit an die Strecke reisen. Sie analysieren von England aus sämtliche Daten, die Hunderte Sensoren des Autos übermitteln; sie beobachten, was sich bei den Mitbewerbern ereignet, und teilen ihre Erkenntnisse direkt mit dem Kommandostand in der Boxengasse. Dort sitzt James Vowles. Er entscheidet über die Strategie.
James Vowles, 38, spricht präzise, kein überflüssiges Wort. 1995, erzählt er, sammelte ein Rennwagen seine Daten auf 16 Kanälen. Heute seien es 50.000. „Der Umgang mit Daten und maschinellem Lernen wird unsere Arbeit fundamental verändern“, sagt er, „und wir haben gerade erst damit angefangen.“ Die Kunst besteht darin, die Daten richtig zu deuten. Bei deren Interpretation sei der Computer zwar bereits eine unverzichtbare Hilfe, sagt James Vowles. „Aber am Ende sind wir es, die die Rennsituationen einzuschätzen oder zu antizipieren haben. Darin sind wir noch immer dem Computer überlegen.“ Und so bleibt als entscheidende Einflussgröße weiterhin vor allem einer: der Mensch.