„Perfektion ist ein bewegliches Ziel.“

Mr. Hamilton, als Sie voriges Jahr den britischen Grand Prix gewannen, haben Ihre Fans Sie auf Händen getragen. Was ist das für ein Gefühl?

Ich würde sagen: ein interessantes Gefühl. Vor allem haben Sie mich nicht fallen lassen.

Sie sind nunmehr vierfacher Formel-1-Weltmeister, gelten als perfekter Rennfahrer. Aber kürzlich sagten Sie: „Perfekt? Ich bin nicht perfekt. Nicht annähernd.“

Es stimmt ja: Schauen Sie sich Muhammad Ali an. Oder, wenn wir über die Gegenwart reden: Roger Federer. Diese Sportler sind erheblich näher an der Perfektion als ich. Beim Wort „perfekt“ denke ich eher an Musiker, die bei jedem Auftritt den perfekten Ton treffen. Außerdem: Das Perfekte bewegt sich ja ständig. Perfektion ist ein bewegliches Ziel.

Echte Teamarbeit: Hamilton tüftelt mit den Ingenieuren an den besten Einstellungen.

Der neue Cockpitschutz, „Halo“ genannt, erhöht die Sicherheit der Fahrer beträchtlich (hier im Cockpit: Valtteri Bottas).

„Wie machen sie das bloß?“

Für Perfektion gibt es keine bleibenden Maßstäbe?

Wir alle entdecken den Begriff für uns ständig neu: Man wird älter – und definiert ihn neu. Man wird klüger, wieder eine neue Definition. Und am Ende lässt die Kraft nach, ich vermute, dass man dann noch einmal anders auf „Perfektion“ blickt. Dann ist es perfekt, wenn man noch einigermaßen Sport treiben kann.

Ist eine neue Saison immer auch ein neuer Anlauf Richtung Perfektion?

Die Saison beginnt ja schon früher: Mitte des vorangegangenen Jahres fangen die Ingenieure mit dem neuen Wagen an. Wenn ich im Januar ins Werk nach Brackley komme, schweben noch all diese Ideen im Raum, die Teile kommen von überall her, aus allen Abteilungen. Es ist faszinierend zu sehen, wie das Team dieses Puzzle zusammensetzt – kein Teil fehlt, alle passen. Ich frage mich jedes Mal: Wie machen sie das bloß?

„Ich will immer jeden schlagen.“

Mit welchem Gedanken steigen Sie in den so entstandenen Wagen?

Es ist, als müsste man einen Code knacken: Für jeden Wagen gibt es verschiedene Gleichungen, und am Ende müssen sie aufgehen. Und ich sitze mittendrin. Übrigens war ich in Mathe nicht wirklich gut.

Gilt für Sie beim Einfahren das Prinzip von Versuch und Irrtum?

Da ist nicht viel Raum für Irrtum: Wenn ich mich beim Bremsen ernsthaft irre, blockiere ich die Reifen, dann bricht der Wagen aus, dann fliege ich vielleicht von der Strecke und beschädige das Auto. Ein bisschen viel Irrtum, oder? Man macht eher Millimeterschritte, um den Wagen ideal zu beherrschen. Auch diese Schritte können Spaß machen.

Visieren Sie noch Rekorde an?

Habe ich nie gemacht.

Wirklich?

Nie. Ich wollte nie so gut wie dieser oder jener Fahrer werden. Ayrton Senna war mein Held in Kindertagen, ja. Ich wollte wie er Formel-1-Fahrer werden. Und dann wollte ich wie er Weltmeister werden. Und als ich das war, wollte ich sehen, wie weit ich noch komme.

Sie wollen nicht der erfolgreichste Fahrer der Geschichte werden?

Nein, so stelle ich mir Perfektion nicht vor. Wirklich nicht.

Wollen Sie bestimmte Rivalen schlagen?

Ich will immer jeden schlagen. Egal, bei welcher Sache. Auch gegen meinen besten Kumpel will ich beim Basketball gewinnen. Das war schon immer so.

Der F1 W09 EQ Power+ ist das schnellste Formel-1-Auto der Mercedes Geschichte.

„Die ganze schöne Planung ist hin.“

Klingt anstrengend.

Nein, nein: Ich liebe diesen Teil. Deshalb sind mir Rennen auch lieber als Qualifying-Sessions – da ist der Wettbewerb direkter. Ich hab’s auch nie besonders gemocht, Modellautos zusammenzubauen, ich bin viel lieber mit ihnen um die Wette gefahren.

Wenn Sie im Wagen eine, ja, perfekte Runde fahren, das haben Sie mir mal erzählt, fühle sich das an wie ein Rennen auf der Playstation. Dort fährt das „Ghost Car“ vor einem her …

… das man eigentlich nicht überholen kann. Und auf einer wirklich perfekten Runde holt man es ein. Ja, das stimmt vor allem bei Testfahrten oder im Qualifying – da fährt man gegen die Uhr, das ist das „Ghost Car“. Im Rennen ist das anders. Denn das „Ghost Car“ im Spiel kennt ja keine Dinge, die unerwartet passieren: Ein Gegner kommt beim Boxenstopp plötzlich ganz knapp vor mir raus, ich muss bremsen. Und verliere plötzlich die halbe Sekunde Vorsprung auf den Wagen hinter mir, die ich mir 15 Runden lang erarbeitet habe. Das ist dann kein Computerspiel mehr. Das ist wie ein Monat, in dem man sein Budget gut geplant hat, alle Rechnungen bezahlen kann – und dann geht die Waschmaschine kaputt. Die ganze schöne Planung ist hin. Im Rennen tut das genauso weh. Immer wieder.

„Es kann immer besser werden.“

Haben Sie in jungen Jahren Ratschläge von älteren Fahrern angenommen?

Formel-Fahrer sind sehr auf sich selbst fokussiert. Da gibt man Jüngeren keine guten Ratschläge.

Aber Ihr Vater hat Ihnen früher Tipps gegeben.

Natürlich. Er schaute sich früher beim Kartfahren immer den schnellsten Jungen an, den aktuellen Champion, und dessen Bremspunkte in der Kurve. Die zeigte er mir dann und sagte: „Du bremst da hinten.“ Und zeigte dann auf eine Stelle, die zwei Meter vor dem Bremspunkt des Schnellsten lag. Ich bin fortan so oft von der Strecke geflogen. Aber irgendwann klappte es. Deshalb bin ich bis heute ein sehr später Bremser.

Hatten Sie und Ihr Vater eine Fehlerkultur? Im Sinne von: Fehler sind o. k., solange du sie analysierst und nicht wiederholst?

Wissen Sie: So viele Chancen haben wir nicht bekommen. Ich musste mich als Jugendlicher so oft an einem bestimmten Tag für eine Rennserie qualifizieren – sonst hätten wir schlicht kein Geld mehr gehabt, um weiterzumachen. So eine Einstellung zu Fehlern konnten sich nur die leisten, für die nicht jedes Rennen lebenswichtig war. Die genügend Geld hatten, um auch mal eine Durststrecke durchzustehen. Wir Hamiltons machten lieber keine Fehler.

Hat Sie das zu einem besseren Fahrer gemacht?

Ja, auf jeden Fall.

Wie haben Sie das als Jugendlicher durchgestanden?

Wir haben einfach immer weitergekämpft. Und irgendwann waren wir ziemlich gut darin.

Erinnern Sie sich aus dieser Zeit an einen Moment, in dem Sie dachten: „Mann, ich habe es geschafft, besser wird’s nicht mehr“?

Nein. Nie. Es kann immer besser werden.

Sie haben früher Ihre Motivation auch daraus bezogen, dass Sie Ihrem Vater, Ihrer Familie, etwas für deren Opfer zurückzahlen wollten. Ist das heute noch so?

Bis heute bemühe ich mich sehr, nichts als selbstverständlich zu nehmen. Ich komme wirklich von relativ weit unten, für uns war so vieles nicht möglich. Bis zum Ende meiner Karriere wird mir bei jedem Rennen bewusst sein, was meine Familie für mich getan hat. Mein Vater hatte mehrere Jobs gleichzeitig, so lange Arbeitstage – ich hätte das wahrscheinlich nicht durchgestanden. Und er konnte sich ja nicht sicher sein, dass sich das auch auszahlen würde. Ich finde das sehr inspirierend.

Vielseitig: Hamilton interessiert sich inzwischen sehr für Mode und Design.

„Ich habe schon immer nach links und rechts geschaut.“

Sie haben sich 25 Jahre auf das Fahren fokussiert. Gibt es andere Dinge, in denen Sie gut sein könnten?

Ich habe schon immer nach links und rechts geschaut. Auch als Jugendlicher. Aber erst seit ein paar Jahren kann ich sagen: Bisher habe ich alle meine Eier, so heißt das bei uns, in den einen Korb gelegt. Jetzt kann ich sie auch auf andere Körbe verteilen.

Sie gehen oft auf Modenschauen. Reizt es Sie, selbst zu designen?

Ja.

Und dementsprechend ernst nehmen Sie das auch.

Ja, klar. Ich mache mir auf den Schauen Notizen: Welche Stoffe benutzt er? Welche Farben kombiniert sie? Ich mache viele Fotos von den Stoffen. Ich darf manchmal nach den Shows noch zwei Minuten mit den Designern sprechen, hinter der Bühne.

Gibt es in dieser Welt Parallelen zur Formel 1?

Es steckt unheimlich viel Arbeit von so vielen Menschen in einem Kleid. Genauso wie bei einem schnellen Auto. Und es ist genauso rasch vorbei: Kaum sind die Schauen gelaufen, beginnen die Designer mit der Arbeit am noch schöneren Kleid. Und wir machen uns auf die Suche nach dem perfekteren Auto.

„Unter der Oberfläche liegt zehnmal so viel harte Arbeit.“

Ist die Mode für Sie auch ein Gegengewicht zum Hightech in der Formel 1?

Nein. Ich finde einfach, dass Kreativität eine sehr wichtige gesellschaftliche Kraft ist. Jede Gemeinschaft sollte es kreativen Menschen erlauben, ihre Fähigkeiten auszuleben. Das gilt auch für Kinder: Wenn man ihnen diese Möglichkeit nimmt – dann schadet man ihnen.

Ist Ihre Familie da ein Vorbild?

Mein Vater hat uns viel Liebe geschenkt. Und er war so ungeheuer selbstlos. Er ist ein Vorbild als Vater, auch wenn ich natürlich einige Dinge anders machen würde.

Sie haben gemeinsam unglaublichen Erfolg gehabt.

Aber das macht uns nicht aus: nicht das Geld und nicht der Erfolg. Das ist wie bei einem Eisberg: Von dem sehen Sie an der Oberfläche nur zehn Prozent – das ist bei uns der Erfolg. Das Geld. Aber unter der Oberfläche liegt zehnmal so viel harte Arbeit. Das sehen die Leute nicht. Sie wollen es vielleicht auch nicht. Deshalb sind diese ganzen Superstar- und X-Faktor-Sendungen auch so attraktiv. Sie suggerieren den Leuten: Ich gehe einfach mal auf eine Bühne und, schwups, bin ich reich und berühmt. Aber so funktioniert es nun einmal nicht. Und im Sport schon gar nicht.

Ritual vor der neuen Saison: das selbstbewusste Porträt im aktuellen Rennanzug.

„Das habe ich immer bewundert.“

Was bewundern Sie am Tennisspieler Roger Federer?

Er ist ein sehr harter Arbeiter, mir imponiert natürlich seine sportliche Leistung. Und wenn man ihn persönlich trifft, ist er völlig unverstellt, unheimlich freundlich. Er ist bestimmt ein toller Ehemann, ein guter Vater. Ich bewundere seine Reden, die er nach Turniersiegen auf dem Platz hält – die sind wirklich sehr gut, emotional und gleichzeitig sprachlich geschliffen.

Und an Muhammad Ali?

Ali ist aufgestanden, für etwas, an das er glaubte. Er hat seine Karriere für politische Belange aufs Spiel gesetzt – das habe ich immer bewundert. Mir hat sein Vorbild gezeigt, dass man auch als eines von nur zwei, drei schwarzen Kindern unter 2.000 weißen Schülern für das einstehen kann, was man denkt.

„Ich habe die Welt noch nicht besser gemacht.“

Weitgehend ohne Öffentlichkeit engagieren Sie sich in Wohltätigkeitsprojekten. Gab es eine Gelegenheit während dieser Arbeit, bei der Sie dachten: „Heute habe ich die Welt ein kleines Stück besser gemacht“?

Nein. Ich habe die Welt noch nicht besser gemacht. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Projekt, mit dem ich wirklich etwas verändern könnte – das wäre perfekt.

Aber Sie besuchen schwerkranke Kinder. Da bewirken Sie doch etwas.

Ich habe dort einmal einen Jungen kennengelernt, er hat mich sofort ins Herz geschlossen, ich war ihm dafür dankbar. In einer perfekten Welt hätte ich mit ihm die Plätze tauschen können. Ich hatte ja schon viele gute Erfahrungen. Er hat seinen sechsten Geburtstag nicht erlebt.

Hatten Sie bei dieser Arbeit nie gute Erfahrungen?

Doch, natürlich. Mich hat einmal eine Frau angesprochen: Sie habe ein Buch über mich gelesen, meine Geschichte habe ihr durch ihre Leukämie-Erkrankung geholfen. Ich habe sofort gesagt: „Das haben Sie schon selber hingekriegt.“ Aber sie war dann sehr überzeugend.

Hilft Ihnen Ihr Glaube, ein gutes Leben zu führen?

Er vermittelt mir Hoffnung. Hoffnung ist eine ungeheuer starke Kraft – wenn man darauf vertraut, dass gute Dinge geschehen. Mir hilft das sehr. Der Glaube an etwas so Kraftvolles wie einen Gott verbindet so viele Menschen weltweit, mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Religion kann ein sehr wertvoller Kompass durchs Leben sein. Ich habe einen Kompass als Tattoo – das bezieht sich direkt darauf.

Ein funktionierender Lebenskompass: Das muss doch ein perfektes Gefühl sein, oder?

Ein gutes Gefühl. Was ist schon perfekt?

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