Manchmal liegen zwischen Vergangenheit und Zukunft bloß einige Zentimeter. In diesem Fall ist es eine tragende Wand aus Stein. Ein paar Wochen zuvor ist die DTM-Saison zu Ende gegangen; Mercedes gewann zum Abschied mit der Partnerfirma HWA wieder die Meisterschaft und Gary Paffett auch die Fahrerwertung.
Nun stehen die sechs Rennwagen des Teams auf Hebebühnen bei HWA in Affalterbach, nordöstlich von Stuttgart. Die Mechaniker überholen die Sportwagen von Mercedes-AMG noch einmal, bevor die Autos unter anderem an Privatleute verkauft werden. Vierliter-V8-Motor, das war Mercedes in der DTM. Eine Ära endet. Die elektrische Ära aber hat gerade erst begonnen. Entwickelt wird sie auf der anderen Seite der Wand. Im HWA Racelab.
Mercedes steigt in die Formel E ein! Das war im Sommer 2017 die Schlagzeile, und Schritt für Schritt nimmt dieses Projekt nun Gestalt an. Für die Debütsaison 2018/2019 bringt Partner HWA ein Auto an den Start, das man als Kunde von Venturi erhält, einem etablierten Formel-E-Team aus Monaco. Im kommenden Winter dann werden die Schwaben als Mercedes Werksteam antreten – mit einem eigenen Triebwerk, das in Brixworth, England, gefertigt wird, der legendären Motorenschmiede des Serienweltmeisters in der Formel 1.
Tüfteln an jedem Detail: Für das Team gilt es, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu lernen.
In der ersten Saison verwendet Mercedes Partner HWA einen Rennwagen des Venturi-Teams. Ein eigenes Triebwerk kommt dann nächstes Jahr.
Für Mercedes ist die Formel E, das darf man sagen, zunächst ein Abenteuer. Kein Autohersteller war in diesem Jahrtausend erfolgreicher auf den Rennstrecken dieser Erde. Fünfmal hintereinander Formel-1-Weltmeister, die meisten Titel in der Geschichte der DTM – das setzt Standards. Wie geht man den Umstieg an aus der Welt kraftvoll dröhnender Hybridmotoren in die Kraft der Stille?
Der grau lackierte Fußboden im HWA Racelab ist antistatisch und blitzblank poliert, darin spiegelt sich das Licht der Neonröhren. Lässiger Clubsound schallt durch die nahezu leere Werkhalle. In minimalistischem Ambiente bereitet das HWA-Team den Formel-E-Einstieg für Mercedes vor. „Gefühlt“, sagt einer der Mitarbeiter, „haben wir die Autos zuletzt jeden Tag auseinander- und wieder zusammengebaut.“ Wenig später werden die Teile in flache, weiße Metallboxen verladen. Insgesamt sind es 6,5 Tonnen Material. Die gehen für die nächsten sechs Monate auf die Reise mit dem Formel-E-Tross.
Franco Chiocchetti, 44, arbeitet seit März als Head of Formula E Track Operations bei HWA in Affalterbach. Das erste Jahr verspreche einen „sanften Einstieg“, sagt er. „Das nimmt uns ein wenig die Fallhöhe. Es geht erst einmal darum, den neuen Wettbewerb zu verstehen.“ Die Champions als Lehrlinge. Auch eine neue Perspektive.
Die Formel E bestreitet aktuell ihre fünfte Saison, und die Beteiligten sprechen auch tatsächlich von „Season five“, als redeten sie über die Staffel einer TV-Serie. Ein Rennen dauert jedes Mal 45 Minuten plus eine Runde. Der früher übliche Fahrzeugwechsel ist Geschichte. Erstmals treten demnächst die großen Autohersteller gegeneinander an: BMW, Audi, Porsche, Jaguar, Nissan. Und eben Mercedes. Für sie ist die Serie eine Plattform, um die Möglichkeiten der Elektromobilität in einem sportlichen Wettbewerb darzustellen; sie wollen Grenzen austesten und den Weg zu lokal emissionsfreiem Stadtverkehr unterstützen. Mercedes Motorsportchef Toto Wolff sagt: „Die Elektrifizierung ist die Zukunft.“
Wie es sich für ein Rennteam gehört, steht in Affalterbach ein Showcar im Empfang. Mattschwarz lackiert, türkisfarbene Linien, coole Carbon-Optik.
Es sieht ein bisschen aus wie eine Rakete. Eine Etage höher sitzt jetzt Franco Chiocchetti in einem Besprechungsraum, er trägt Jeans und Hemd, Dreitagebart. Der Ingenieur hat italienische Wurzeln, ist in Südafrika aufgewachsen und hat zuletzt fast zwanzig Jahre im Allgäu verbracht. 2016 führte er als Technikchef Lucas di Grassi zum Fahrertitel in der Formel E. Der Mann weiß, wie man gewinnt. Er weiß aber auch, dass so etwas dauert.
Die Formel E fährt in Metropolen wie Hongkong, Paris, Rom, Berlin und zum Finale an zwei Tagen in New York. Da gibt es keine Boxengasse wie an der Rennstrecke. Die knapp 20 Teammitglieder müssen sich in zwei etwa zwei mal drei Meter große Boxen quetschen. Mitunter steht auch mal wie in Paris eine Straßenlaterne im Zelt, erzählt Chiocchetti.
DTM-Champion Gary Paffett fährt nach dem Rückzug aus der DTM nun in der Formel E für HWA.
Die Formel E funktioniere wie ein Start-up: „Deshalb ist es für uns auch gar nicht so schlecht, mit einem leeren Blatt Papier anzufangen.“ Als Fahrer gehen DTM-Champ Paffett und der Formel-1-erfahrene Stoffel Vandoorne in die Rennen. Testtage gab es nur wenige. Dabei muss man sich den Umstieg in etwa so vorstellen, als würde ein Ski-Abfahrer mit einem Mal im Slalom antreten. Improvisationskunst ist gefragt. „Unser Equipment wird zentral von den Veranstaltern eingelagert und transportiert“, erzählt Chiocchetti. „Wir dürfen unsere Kisten Mittwochmittag um zwölf öffnen. Am Samstag beginnt das Rennen.“ Viel Zeit, das richtige Set-up zu finden, bleibt da nicht.
Das Chassis ist für alle Teams gleich, ebenso die Batterien. Das macht die Formel E relativ günstig, der Wettbewerb kostet einen zweistelligen Millionenbetrag im Jahr. Set-up und die Software sind im Prinzip das Einzige, was die HWA-Leute in dieser Saison beeinflussen können. Wenn der eigene Antriebsstrang hinzukommt, kann das den Unterschied machen. Das ist der Job von Andy Cowell, 49. Er ist der Geschäftsführer von AMG High Performance Powertrains (HPP) und damit auch für den besten Hybridmotor der Welt verantwortlich. Knapp 25 Leute entwickeln jetzt das neue Projekt, fast alle kommen aus der Königsklasse des Motorsports.
Es gebe viele Parallelen zur Formel 1, sagt Andy Cowell. „Das eine müssen wir rauf-, das andere runterskalieren, um den Regularien zu entsprechen.“ Sie werden etwa Design-Standards aus der Teilefertigung übernehmen. Cowell bringt die Souveränität des Seriensiegers mit. Und die entsprechenden Ansprüche. „Ungeduld erhöht den Druck, das ist nur menschlich“, sagt er. „Doch warum auch nicht? Natürlich wollen wir beeindrucken. Aber wir unterschätzen die Herausforderung nicht.“
Auch deshalb wechselt Tony Ross, 52, zum neuen Team. Eine konsequente Umsetzung der Firmenphilosophie: Always change a winning team.
Ross war bis vor Kurzem noch der Renningenieur von Valtteri Bottas in der Formel 1, 2016 verhalf er Nico Rosberg zum WM-Titel. In der Formel E pendelt er künftig als Chefingenieur zwischen Affalterbach, der Motorsportzentrale in Brackley, England, und der Motorenabteilung in Brixworth.
Was anders sei in der Formel E? Die Aerodynamik des Renners produziert weniger Abtrieb als dessen Formel-1-Pendant, die Allwetterreifen von Michelin haben weniger Grip, und ein reiner Elektromotor beeinflusst natürlich auch das Fahrverhalten. „Aber eines ist in jeder Serie gleich“, sagt Ross, „wir müssen uns permanent der Grenze des Machbaren annähern.“
Eine typische Strecke der Formel E: In Paris führt der Kurs rund um den Invalidendom.
Es ist die Idee der Formel E, dass nicht die Zuschauer an die Rennstrecken pilgern, sondern die Show zu ihren Fans kommt. Das gibt der Serie einerseits eine junge, urbane Ästhetik und Haltung. Die Ingenieure und Piloten stellt es andererseits vor große Herausforderungen: Sie müssen sich damit abfinden, dass der Asphalt in den Innenstädten nicht nur rutschig ist, sondern oft sehr unterschiedlich beschaffen. Dazu gibt es Gullydeckel, kaum Auslaufzonen, viele Mauern. „In der Formel 1 war Monaco für uns immer ein extremes Rennen“, sagt Tony Ross, „ab jetzt haben wir fast nur noch Monacos.“
Es werde Zeit brauchen, bis sie das alles durchschaut haben. Und sie müssen etwas Neues lernen: das Verlieren. Tony Ross findet das gar nicht so schlimm. „Das macht uns nur noch hungriger“, sagt er. Auch Demut gehört bei Mercedes Motorsport zur Philosophie.
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