Wir ticken ähnlich.

Es ist noch nicht so lange her, da telefonierte ich mit Daniel. Wir kennen uns seit der Grundschule. Wir haben in den Achtzigern in seinem Kinderzimmer auf dem Commodore 64 „Winter Games“ bis zur Fingersehnenreizung gespielt, saßen nach bestandener Abiturprüfung auf dem Dach seines Elternhauses und tranken Whisky aus der Flasche, heirateten beide spät, weil wir das Leben als Singles so lange wie möglich genießen wollten. Wir hatten schon immer ein analoges Gespür für Zeit, wir ticken ähnlich.

Daniel fragte mich am Telefon, ob ich im Juli der Pate seines erstgeborenen Sohnes Kurt werden wollte. Ich lag auf unserem Wohnzimmersofa, trug mein schon ziemlich verwaschenes Boston-Celtics-T-Shirt, es war ein Sonntag, kurz nach 14 Uhr. Ich weiß das deshalb noch so genau, weil in diesem Augenblick auf dem Bildschirm Lewis Hamilton in Monza von der Pole Position starten sollte, als mein Handy klingelte. „Ausgerechnet jetzt“, zischte ich und dachte schon daran, nicht abzuheben, ihn später zurückzurufen, mir den spannendsten Moment eines Formel-1-Rennens nicht verderben zu lassen. Aber instinktiv berührte ich den Punkt zum Abheben und war Sekunden später froh, die Stimme meines Freundes zu hören.

Bei Nazaré prallen die größten Wellen der Welt auf Portugals Küste. Mit den Jetskis geht es hinaus auf den Atlantik, wo sich das Wasser zu türmen beginnt.

Von der Brandung der Monsterwellen träumen Big-Wave-Surfer. Alle anderen schauen still zu, lauschen dem Toben, staunen über die Wildheit der Natur.

Ich verstand nur ein Wort: tot.

Ich spürte die Gänsehaut vom Unterarm über Ellbogen und Schulter zum Nacken und scheinbar direkt ins Stammhirn wandern, als ich mich sagen hörte, es wäre mir eine Ehre, der Pate seines Sohnes zu werden. Beziehungen gipfeln in besonderen Momenten, von denen wir noch Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte zehren. Wir telefonierten keine zwei Minuten. Auch er sah sich gerade das Rennen an. Hamilton fuhr souverän, siegte, es sollte ein ziemlich gemütlicher Sonntag werden.

Seitdem Kurt auf der Welt war, schliefen Daniel und seine Frau Tatjana in getrennten Betten – sie im Kinderzimmer, er im Schlafzimmer. Die erste Nummer, die Tatjana nach der Notrufnummer wählte, war meine. Es war 4 Uhr 48. Sie weinte. Kurt schrie. Ich verstand nur ein Wort: tot. Mein Herz raste, fing Feuer, brannte. Daniel war mit einem Herzfehler geboren worden, der ihn nie wirklich beeinträchtigte. Harmlos, sagten die Ärzte. Wenige Stunden nach unserem Telefonat, in der Nacht auf Montag, war er an einem Infarkt gestorben. Er wurde 41.

Die Luft scheint zu vibrieren.

Als man mich bat, nach dem Event „Race of Life“ meine Eindrücke niederzuschreiben, dachte ich zunächst lange nach. Markenbotschafter von Mercedes-Benz waren zusammengekommen, Athleten, Künstler, Designer, Unternehmer. Sie alle waren nach Portugal gereist, um sich auf etwas einzulassen, das im Alltag oft zu kurz kommt: Abenteuer, die das Adrenalin strömen lassen. Die schroffe Küste vor Nazaré, die dunklen Wellen des Atlantiks, die sich am Horizont langsam aufbauen. An nur wenigen Orten dieser Welt türmen sie sich zu solchen Wasserwänden, bis zu 30 Meter hoch. Sie tosen, sie schäumen, sie stürzen. Sie malen ein Naturereignis, das einem den Atem raubt. Wer sich auf Jetskis hineinwagt in dieses Brodeln, Dröhnen und Stäuben, wird sich all seiner Sinne gewahr und ist gleichzeitig wie betäubt.

Ein elementares Erlebnis. Inmitten ungezähmter Natur zählt nur der Moment, jene Bruchteilsekunde, die sich für immer einbrennt, weil sie einzigartig ist. Auf der Rennstrecke von Estoril wird brüllend ein Motor angeworfen. Dann noch einer. Und noch einer. Die Luft scheint zu vibrieren. Gas geben im Leerlauf, das Aufheulen. Ein Fahrer zeichnet mit qualmenden Reifen – er hat kurz alle Assistenzsysteme ausgeschaltet – einen Donut auf den Asphalt. Marke: Mercedes-AMG. Auch auf der Rennstrecke geht es um Bruchteilsekunden, um den besonderen Moment. Doch sobald wir wieder Ruhe haben, fragen wir uns: Wenn so viel Leben in einer Bruchteilsekunde steckt, wieso vergeuden wir dann so viel Zeit?

Wohin führt uns unser Weg? Welche Hindernisse stellen sich uns in die Bahn, wie werden wir sie überwinden? Nur die Zeit wird es uns zeigen.

Eine Frage der Perspektive.

Ich dachte über das Wesen der Zeit nach, an Sir Isaac Newton, der Zeit als etwas verstand, das gleichmäßig dahinfließt – unabhängig von allen physikalischen Zusammenhängen. Diese absolute Zeit bildete bei ihm zusammen mit dem ebenso absoluten Raum die Bühne, auf der sich alle physikalischen Vorgänge des Universums abspielen. Zum Beispiel heute ein Formel-1-Rennen. Start, Ziel, Bestzeit. Lewis Hamilton hat gewonnen. Basta. Newtons absolute Zeit beherrschte die Physik 200 Jahre lang. Bis Albert Einstein sie mit der Relativierung der Zeitmessung entzauberte. Seither wissen wir: Bewegte Uhren gehen langsamer. Für Einstein sind Raum und Zeit nur Projektionen eines komplexeren Objektes, der sogenannten Raumzeit.

Anders als bei Newton besteht in Einsteins Weltbild keine absolute Klarheit darüber, ob zwei Ereignisse gleichzeitig oder nacheinander stattfinden; dies liegt im Auge des Betrachters. Anders ausgedrückt: Gleichzeitigkeit ist relativ und somit eine Frage der Perspektive. Im Einstein-Universum ist nicht eindeutig belegt, ob Lewis Hamilton den WM-Titel in der Formel 1 im vorigen Jahr oder vor 100 Jahren gewonnen hat.

Er wusste, dass Zeit kostbar ist.

Daniel war ein großer Fan von Einsteins Zeitverständnis. Zeit spielte in seinem Alltag keine begrenzende Rolle. Es kam schon mal vor, dass ich im Café eine halbe Stunde auf ihn warten musste. Dass wir uns gegenübersaßen und für eine Stunde kein Wort miteinander wechselten. Manchmal vergaß er die Zeit und arbeitete bis in die Morgenstunden, um sofort im Anschluss einen handgeschriebenen Brief zu verfassen, in dem er von seiner Idee erzählte, Computerspiele für Schulen zu entwickeln, in denen das gesamte Wissen der Welt eins zu eins verpackt war – jederzeit abrufbar. Natürlich war er ein Nerd. Aber er war auch ein Freigeist, ein Künstler, ein digital denkender Humanist. Er wusste, dass Zeit kostbar ist. Dass Zeit Geld ist und beides – sowohl im Überfluss als auch im Mangel – relativ. Dass der Zeitpunkt entscheidet, ob man am richtigen Ort ist. Seine Idee scheiterte grandios an fehlenden Investoren (und an der schieren Monstrosität der Aufgabe), aber erst nach vielen Jahren des Tüftelns.

In der Zwischenzeit hatte er tatsächlich andere Computerspiele entwickelt, ein Unternehmen gegründet, als Professor gelehrt. Irgendwann in diesen Jahren schrieb er mir wieder einen Brief. Er hatte sich aus einer Laune heraus zwei Tage und Nächte mit Thomas Manns „Der Zauberberg“ beschäftigt und dem Brief den Titel „Triumph der Zeit“ gegeben. „Die Zeit“, schrieb er, „ist eine im Hintergrund unabänderlich werkelnde Protagonistin im Zauberberg. Der junge, wissbegierige Ingenieur Hans Castorp wird von der Zeit verschlungen. Er gerät in sie hinein wie in ein ewiges Schneegestöber, er vergisst die Wochentage, vermag die Jahreszeiten nicht mehr voneinander zu unterscheiden, vergisst sein Alter, seinen Geburtstag, und während er die Zeit vergisst, hat sie ihn längst besiegt.“

Zeit steht ihnen still.

„Wusstest Du“, schrieb Daniel weiter, „dass nur ein Jahr nach dem Zauberberg – 1925 – ‚Der große Gatsby‘ erschien? Eine müde Gesellschaft, kraftlos, ziellos, vergnügungssüchtig und verkommen wie die Sanatoriumsgesellschaft von Davos, feiert im Hause eines reichen, rätselhaften Mannes ihre gleichgültigen Feste. Die Zeit steht ihnen still. Nur Gatsby, dieser eine Mann in seinem unglaubwürdigen Prachtbau, hat ein Ziel - die Zeit besiegen, die Vergangenheit in eine ewige Gegenwart hinüberretten. Es ist der Moment, für den Gatsby lebt, der Moment, in dem sie stehenbleiben muss, die Zeit, für immer. Gatsby lehnt am Kaminsims, den Kopf am Zifferblatt einer alten, kaputten Kaminuhr. Er neigt sich weiter zurück, die Uhr neigt sich auch und droht zu stürzen. Nur mit zitternden Fingern kann er sie in letzter Sekunde retten. Sie bleibt ganz, um auch in Zukunft symbolhaft die ewig gleiche Zeit anzuzeigen. – Übrigens: Auch Castorps Taschenuhr übersteht die sieben Jahre Romanzeit nicht. Sie fällt vom Nachttisch, und der junge Mann sieht von einer Reparatur ab. Warum? ‚Aus Gründen der Freiheit‘, schreibt Thomas Mann. Doch all die toten Uhren helfen unseren Helden nichts. Der eine verschwindet im Krieg, der andere in seinem Swimmingpool. Triumph der Zeit. Triumph der Ewigkeit.“

Im Juli werde ich Daniels Sohn Kurt taufen.

Daniels plötzlicher Tod, das Lesen in seinen Briefen, hat mir offenbart, dass ich das Wesen der Zeit nicht aus einer einzigen Perspektive betrachten kann. Natürlich ist Zeit relativ. Natürlich ist Zeit absolut. Jeder, der einen geliebten Menschen verloren hat, spürt, erlebt, weiß das. Als absolut empfindet man die Lücke, als relativ die gemeinsame Zeit. Für immer. Denn ganz gleich wie man zu ihr steht: Die Zeit triumphiert. Im Juli werde ich Daniels Sohn Kurt taufen. Er ist dann zwar erst 21 Monate alt, aber ich habe für ihn bereits eine Ausgabe des „Zauberbergs“ erworben. Sie soll ihn auf seinem Lebensweg, seinem Race of Life, begleiten.

Autor Alexandros Stefanidis.

Weitere Informationen.

Die Markenbotschafter im Video

Grid NBA DE