Er hatte das Match schon gewonnen.

Roger Federer hatte das Match schon gewonnen, aber er wusste es nicht, und sein Gegner Rafael Nadal und die 14 820 Zuschauer der Rod Laver Arena wussten es auch nicht. Beim Matchball im fünften Satz – es stand 5:3 und Vorteil für ihn – hatte er eine Vorhand so knapp an die Seitenlinie gesetzt, dass das Hawk-Eye, also der Computer, entscheiden musste, ob der Filzball sie noch gestreift hatte. Und so stand der ahnungslose Sieger nach drei Stunden und 38 Minuten ein paar Sekunden lang auf dem hell erleuchteten Center Court in der australischen Nacht, den Kopf demütig gesenkt; es blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten.

Spiel, Satz und Sieg.

Es war ein magischer Tennismoment, ein verzögerter Sieg, ein Drama, das durch eine allerletzte Verwicklung für einige Augenblicke stillstand, bis Federer den Blick zur Anzeigetafel erhob: Kein Zweifel, der Ball hatte die Linie berührt, nur ein, zwei Zentimeter, aber das reichte – Spiel, Satz und Sieg Roger Federer!

Was sich dann abspielt, lässt erahnen, dass Federer in diesem Moment mehr als ein Tennismatch, auch mehr als ein bedeutendes Turnier gewonnen hat: Wie ein Kind wirft er die Arme nach oben, strahlend, selbstvergessen, hüpft mehrmals auf und ab, geht zum Netz, gratuliert Nadal, kehrt mit Tränen in den Augen zurück auf den Platz, kniet nieder, nicht kitschig, eher anmutig. Wie ein Edelmann, der zum Ritter geschlagen wird.

Der größte Tennisspieler der Geschichte.

Nach einer Knieoperation und einem halben Jahr Pause, nach fünf Jahren ohne Grand-Slam-Erfolg war der größte Tennisspieler der Geschichte im Alter von 35 Jahren noch einmal zurückgekommen. Immer wieder war er in Interviews gefragt worden, ob er ans Aufhören denke, ob er es nicht mal gut sein lassen wolle und was er, der alle wichtigen Turniere doppelt und dreifach gewonnen habe, sich denn noch beweisen müsse. „Ich spiele, weil es mir Spaß macht“, hatte Federer jedes Mal geantwortet. Und jetzt so ein Triumph bei den Australian Open, dem ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres.

„Wenn ich das Viertelfinale erreiche, bin ich zufrieden“, hatte er zuvor gesagt. Eine realistische Einschätzung, wenn einer gerade erst ein paar Wochen lang auf Krücken durch die Gegend gehumpelt ist. Die Erwartungshaltung mag also niedriger gewesen sein als sonst, die Unsicherheit allerdings groß, der Druck riesig. Aber Federer hielt ihm stand und überraschte alle, sogar sich selbst. Es sind solche Geschichten, die Sportfans in der ganzen Welt bewegen: Wenn einer es noch mal wissen will und bereit ist zu scheitern, um den vielleicht letzten großen Sieg nach Hause zu holen.

MercedesCup in Stuttgart-Weißenhof.

Fünf Monate später tänzelt Roger Federer über den Teppich einer Hotellobby in Stuttgart. Er trägt ein dunkelblaues Poloshirt, eine Trainingshose und Laufschuhe, seine Haare sind kürzer als sonst. Nur noch 24 Stunden bis zu seinem Auftaktmatch beim MercedesCup in Stuttgart-Weißenhof gegen Tommy Haas; zwei Wochen später wird Wimbledon beginnen, das ehrwürdigste aller Turniere.

Mehr als ein Mensch.

Der Schriftsteller David Foster Wallace hat Roger Federer und dessen Art, Tennis zu spielen, mal als „religiöse Erfahrung“ beschrieben. Er sei mehr als ein Mensch, eher ein „Genie, Mutant oder Avatar“, wirke nie gehetzt, immer ausbalanciert, in sich ruhend. Was pathetisch klingt, wird zumindest nachvollziehbar, wenn man diesem Mann zum ersten Mal gegenübersteht: Wie er geht, plaudert, lächelt oder die Kaffeetasse zum Mund führt, alles an diesem Menschen wirkt anstrengungslos, beiläufig und natürlich, seine Bewegungen sind fließend und präzise, seine Stimme ist sonor, sein Händedruck nicht hart und nicht weich, er wirkt irgendwie rein, fast jugendlich.

„Ein bisschen Bewegung hilft.“

Neulich ist er von einem Reporter nach einem gewonnenen Endspiel noch auf dem Platz gefragt worden, wie man mit fast 36 noch so frisch sein könne. Federers Antwort brachte die Zuschauer zum Lachen: „Ein bisschen Bewegung hilft“, sagte er und grinste. Wichtig finde er auch, dass man ab und zu in die Natur rausgehe, und vor allem: viel Schlaf. Das sagt er oft. Federer schläft jede Nacht elf bis zwölf Stunden. Einmal hat er erzählt, wie seine kranke Tochter in der Nacht vor einem Finale zu ihm ins Bett geschlüpft sei, ihr sei schlecht, sie müsse sich übergeben. Federer ließ sie sich an ihn kuscheln – und gewann am nächsten Tag trotzdem.

Ein talentierter Tennisspieler aus der Schweiz.

„Von außen“, sagt er, „mag es in diesem fünften Satz gegen Nadal ausgesehen haben, als ob ich in einem Flow gewesen wäre und mein Körper, meine Arme und Beine von ganz allein das Richtige gemacht hätten, aber das stimmt nicht.“ Jeder Schlag und jeder Schritt seien das Resultat einer strategischen Überlegung gewesen. „Und am Ende“, sagt er, „war ich so müde, aber gleichzeitig habe ich mich so frei und so wohl gefühlt; so glücklich, dass ich das noch mal erleben durfte und dass die Menschen sich aufrichtig mit mir freuen.“ Es ist ein typischer Federer-Satz. Nie kreist er nur um sich, immer denkt er an die anderen, das Team, die Fans, die Zuschauer.

Es ist 14 Jahre her, dass Roger Federer zum ersten Mal Wimbledon gewonnen hat. Davor war er ein talentierter Tennisspieler aus der Schweiz, ein Hitzkopf mit langen Haaren, der seinen Schläger über den Platz warf. Damals habe er sogar einen Mentaltrainer um Hilfe gebeten, um seine Nerven in den Griff zu bekommen. Aber nach diesem ersten großen Sieg habe er so viel Selbstsicherheit gespürt, dass er bis heute davon zehre. „Seitdem brauche ich keine mentale Unterstützung mehr“, sagt er, „ich meditiere nicht und mache kein Yoga, ich weiß, was zu tun ist, und spüre die Kraft in mir, es zu tun.“

Der Beginn einer unglaublichen Karriere.

Es war der Beginn einer unglaublichen Karriere: Federer wurde nicht nur zum erfolgreichsten, sondern auch zum elegantesten, vielseitigsten, bestverdienenden und – da sind sich die meisten Fans einig – sympathischsten Tennisprofi, den es je gegeben hat, zu einem Weltstar, einer Ikone des weißen Sports. Insgesamt war er 302 Wochen lang die Nummer 1 der Weltrangliste, hat weit über 1 000 Matches gewonnen, mehr als 100 Millionen Euro Preisgeld eingespielt – und das sind nur drei von 45 Rekorden, die er innehat. Manche davon klingen fast unheimlich: Von 2003 bis 2005 hat er 24 Endspiele in Folge für sich entschieden, von 2003 bis 2008 in 65 Matches auf Rasen hintereinander gesiegt. Und doch sind das alles nur Zahlen, welche die Faszination dieses Athleten nur darstellen, nicht erklären und schon gar nicht spürbar machen können.

Nirgendwo Ecken oder Kanten, alles fließt.

Seine Aura speist sich nur zum Teil aus Siegen, der andere Teil, das sind seine Persönlichkeit, seine Aufrichtigkeit und Fairness, die Art und Weise, wie er sich auf und neben dem Platz benimmt. Auf YouTube kann man sich die schönsten Ballwechsel aus Federers Karriere immer wieder anschauen. Sie werden noch schöner, wenn man sie mit Musik untermalt, am besten mit klassischer, nichts Schweres, Gravitätisches. Lieber ein Tanz von Mozart, der beides ist: komplex, aber gleichzeitig ganz leicht und luftig. Wie er mit kleinen Schritten den Platz abmisst, wie er springt, ausholt, ans Netz vorrückt, das hat etwas von einem Balletttänzer. Nirgendwo Ecken oder Kanten, alles fließt.

Legenden über diesen Mann.

In der Tenniswelt raunt man sich seit Jahren Legenden über diesen Mann zu: dass er eine Atemtechnik entwickelt habe, die dazu führt, dass er nicht schwitzt. Dass er alles, was um ihn herum passiert, langsamer als andere Menschen wahrnehme, also auch die Aufschläge seiner Gegner. Es sind Versuche, ein unerklärliches Phänomen begreifbar zu machen.

Die jungen Wilden, Alexander Zverev oder Dominic Thiem, das sind die Romantiker des Tennis, ungestüm, schillernd, aggressiv; Roger Federer ist der Klassiker, der Tennis mit Anmut und Würde zelebriert und die Brücke von den Anfängen des weißen Sports, als die Herren noch mit langer Hose und Bügelfalte über den Platz spazierten, bis zur Gegenwart schlägt. Er ist die Synthese aus Vergangenheit und Zukunft des Tennis, das im Laufe der Jahrzehnte immer dynamischer geworden ist.

Eine gesellschaftliche Größe.

Er stürmt und drängt nicht mehr, er agiert souverän aus einer Position der Stärke und Erfahrung heraus, scheint alle Affekte zu einem Ausgleich gebracht zu haben. Wenn er spielt, ist er in seinem Element, dann verwandelt er alles in Eleganz und stille Größe. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch im Leben als Mann und Vater von vier Kindern scheint er in jedem Moment zu wissen, wo er zu stehen und was er zu tun hat. Er experimentiert nicht mehr, sondern genießt, er erzwingt nichts, er lässt geschehen – und reist grundsätzlich mit einer riesigen Entourage um die Welt; seine Frau Mirka, die vier Zwillinge, zwei Kindermädchen, seine Trainer, sein Manager, ein Physiotherapeut, ein Sparringspartner – wenn der Federer-Clan anrückt, muss schon mal eine halbe Hoteletage angemietet werden.

Er ist längst mehr als ein Sportler, auch mehr als ein Sportstar. Roger Federer ist eine gesellschaftliche Größe, zu seinen Fans und besten Freunden zählen die Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour und der Hollywoodschauspieler Bradley Cooper. Die Stargeigerin Anne-Sophie Mutter hat mal erzählt, dass sie sich sogar auf Tournee nachts den Wecker stelle, wenn ein Federer-Match im Fernsehen komme, sie könne sich einfach nicht an ihm sattsehen. Interessant dabei ist, dass er weder peinlich noch fehl am Platze wirkt, wenn er wie letztes Jahr bei der Fashion Week in Paris über den roten Teppich läuft. Fast wirkt es so, als müsste er sich nicht verstellen, weil sich jede Umgebung nach ihm richtet. Er muss nur Roger Federer sein – und macht alles richtig.

„Ich spiele so, weil es mir nur so Spaß macht.“

„Ich glaube“, sagt er, „dass ich heute besser Tennis spiele als jemals zuvor in meinem Leben.“ Ja, vor zehn Jahren sei seine Vorhand phänomenal und sein Selbstbewusstsein mächtig gewesen, dafür spiele er heute riskanter, intelligenter, abwechslungsreicher. Er sucht schneller die Entscheidung, spielt unberechenbar, meidet lange Ballwechsel. „Viele meinen, dass es am Alter liegt, dass ich mich schonen will, aber das ist es nicht“, sagt er, „ich spiele so, weil es mir nur so Spaß macht.“

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