Salvador Dalí schmunzelt. Er steht am Strand auf einem Betonsockel, im feinsten Zwirn in Bronze gegossen, die Beine über Kreuz auf einen Gehstock gestützt. Er wirkt mit seinem markanten, über den Mundwinkeln gezwirbelten Schnurrbart immer noch wie aus der Zeit gefallen. Aber vielleicht schmunzelt er auch nicht. Vielleicht lässt sich sein Gesichtsausdruck ebenso wenig einordnen wie die Fantasie, aus der seine Bilder entsprangen. Vielleicht macht er sich auch nur über seine Präsenz lustig, als wäre sie sein surreal anmutendes Vermächtnis.
Denn Cadaqués ohne Dalí ist unvorstellbar. „Den Verrückten“ nannten sie ihn hier früher, weil er sich die Freiheit nahm, Konventionen zu brechen. Er hat die Bucht und das Dorf weltberühmt gemacht, er posiert auf unzähligen Fotos und Plakaten an den Wänden der Restaurants und Bars und er dominiert häufig auch die Gespräche an deren Tischen und Theken. Das einstige Fischerdorf mit den weiß getünchten Häusern und roten Ziegeldächern wurde mit Dalí zum Sehnsuchtsort vieler Künstler des 20. Jahrhunderts wie etwa René Magritte, Marcel Duchamp oder Richard Hamilton. Es gilt heute als Zentrum der Dalí-Verehrung und schönster Ort der Costa Brava.
Hier verbrachte Dalí als Kind seine Sommerferien, rannte durch die schmalen, verwinkelten Gassen, die sich an der muschelförmigen Bucht steil den Hang hinaufziehen. Hier ließ er sich in den 1930er-Jahren nieder, kaufte sich in der angrenzenden Bucht von Portlligat ein paar Fischerhütten und baute sie zu Wohnung und Atelier um. Hier fand er in den bizarr anmutenden Felsformationen des Nationalparks rund um das nahe liegende Cap de Creus seine Inspiration.
Cadaqués, nordöstlich von Barcelona, mit dem neuen E-Klasse Cabriolet in zwei entspannten Stunden erreicht, liegt an der Grenze zu Frankreich. Noch immer zieht die Region junge, aufstrebende Künstler an. Manche sind schon vor Jahrzehnten in den Ort gezogen und mit ihm gealtert, andere sehen Cadaqués als unabdingbare Zwischenstation auf dem Weg zur internationalen Karriere. Blickt man in die vielen Ateliers, könnte man auf den ersten Blick vermuten, der Surrealismus lebe hier fort wie in einer mediterranen, verträumten Zeitblase.
Der deutsche Künstler Daniel Zerbst, 42, liebt die Freiheit, die Cadaqués ihm bietet. Mit offenem Verdeck und hellblau schimmernder Sonnenbrille fährt er die Promenade entlang, grüßt winkend Künstlerkollegen und Freunde. „Die kennen mich sonst nur auf dem Fahrrad“, sagt er und freut sich wie einst Dalí diebisch über die erstaunten Gesichter. Er streicht sanft über das rote weiche Nappaleder der Armaturen. Freiheit ist nur ein Wort, aber manchmal kann man sie fühlen.
Zerbst kam 1995 nach Cadaqués, war damals 20 und wollte der Enge Braunschweigs und der Vorstellung seiner Eltern entfliehen, die ihn schon als Lehrer sahen. Er hatte Goldschmied gelernt, eine Kunsthochschule besucht, seine Zukunft sah er nicht in einem Klassenzimmer. Er schlug sich zunächst als Bauarbeiter, Kellner und Anstreicher durch, malte morgens und nachts, lernte die Sprache. Er steht selten vor zehn Uhr auf, „Nachtarbeiter“, sagt er.
Genussvoll trinkt er nach der Fahrt seinen Kaffee und dreht sich in aller Ruhe eine Zigarette, die Sonnenbrille immer noch im Haar, das Hemd offen. Als zerfließe Zeit wie in jenem berühmten Gemälde Dalís mit den schmelzenden Uhren. Zerbst sitzt jetzt in seinem Stammcafé, dem „Casino“ am Hafen. Sieben Meter hohe Decken und fast ebenso hohe Fenster, Holztische und eine lange Bar, an der man für läppische 1 Euro 50 mit einem freundlichen Murren des Barista den wohl besten Café con Leche im Ort serviert bekommt. „Ich sehe mich nicht als klassischen Surrealisten“, sagt Zerbst, dessen Atelier im ersten Stock des alten Dalí-Museums zu bestaunen ist, nur zwei Gehminuten vom „Casino“ entfernt.
Dort hängen gut drei Dutzend Bilder an der Wand. Die meisten prägt ein erdiger Grundton, eine Bilderserie sticht heraus. Sie ist mehrere Meter lang, graublau und trägt den Titel „Analogue Cyber Frieze“. Das Setting ist eine archaische Landschaft vor oder nach der Zivilisation, mit Star-Wars-Analogien und scheu dreinblickenden Aborigines; irgendwo füttert Joseph Beuys ein Rehkitz. Utopie und Dystopie wechseln sich in seinen Bildern ab, werden eins, entzweien sich, nie ist klar, ob man in die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft schaut. Zerbst nennt seine Kunst „Magischen Realismus“. „Alles, was ich male“, sagt er, „ist oder war real, nichts ist komplett erfunden.“ Er hat auch schon eine Idee, wie er seine jüngste Cabrio-Erfahrung umsetzen wird, nur verraten will er sie noch nicht. „Inspiration hat mit Magie zu tun“, sagt er nur.
Die Abgrenzung zum Surrealismus eines Dalí ist keine Koketterie. Wer in Cadaqués als Künstler wahrgenommen werden will, sucht nach einer eigenen Bildsprache, einem originären Blick auf die Welt. Dalís Ruhm und die Tatsache, dass dieses Fischerdorf ein Treffpunkt der internationalen Künstlerszene war, wiegen schwer. Richard Hamilton hat Zerbst einst dazu ermuntert, das zu malen, was er sieht, und sein Talent nicht zu vergeuden, indem er das malt, was andere schon vor ihm gemalt haben. Hamilton sei „ein Freund”, sagt Zerbst.
Die Sonne fällt durch die hohen Fenster ins „Casino“. Manchmal, wenn man mit ihm spricht, hat man das Gefühl, er lebe seinen Traum. Manchmal spürt man aber auch die Zerrissenheit, die ihn aufwühlt und bis in die Morgenstunden arbeiten lässt. Er ist ein ruhiger, zarter, sensibler Mensch. Sein einst blondes, langes Haar ist angegraut, zu einem Zopf gebunden, seine Bilder erzielen inzwischen einen vierstelligen Euro-Betrag.
Wer im Hafenrestaurant „L’Hostal“, das Dalí oft besuchte (und laut Auskunft des Besitzers auch eingerichtet hat), auf die Fotos an der Wand schaut, dem fällt sein Blick auf. Dalí starrte, stierte, glotzte in die Kamera. Als würde es beim nächsten Wimpernschlag in seinem Kopf klicken und Dalí ein Bild von der Kamera und der Szenerie dahinter machen. Joaquín Lalanne kommt gern ins „L’Hostal“.
„Hier gibt’s den besten Fisch“, sagt der 28-jährige Uruguayer, der 2009 mit einem Kunststipendium nach Spanien übersiedelte. Er lebt seit 2010 in Cadaqués und gilt als Geheimtipp, manche sehen in ihm einen Shootingstar. Seine letzte Ausstellung in Barcelona war innerhalb eines Tages verkauft, Mindestpreis: 5 000 Euro pro Bild. Er nennt Raffael, Dalí, Fernando Botero und René Magritte, wenn man ihn nach Einflüssen fragt. „Aber das sind Giganten, ich bin nur ein Zwerg“, sagt er bescheiden. „Meine Bilder sind ein Mix aus Pop-Art, Surrealismus und Renaissance.“
Beim letzten Staatsbesuch überreichte der uruguayische Präsident Tabaré Vázquez dem spanischen König eins von Lalannes Bildern als Geschenk – live übertragen im uruguayischen TV. „Meine Mutter ist fast ausgeflippt vor Stolz“, sagt er lächelnd. Lalanne lacht gern. Sein zerzaustes Haar, der wild wachsende Bart, die Farbe an seinen Fingern, sein unordentliches Atelier – Lalannes Welt dreht sich nur um seine Bilder. Er ist bis ins kommende Jahr ausgebucht, malt zwischen 12 und 14 Stunden am Tag. „Es tut gut, wenn ich mal wieder ein bisschen rauskomme, den Kopf frei kriege“, sagt er.
Während der Spazierfahrt mit dem Cabriolet durch und rund um Cadaqués zeigt Lalanne zuerst auf die Hafenbar „Meliton“, in der Marcel Duchamp früher jeden Sommer Jazz spielte, später auf das Haus, das Richard Hamilton bewohnte, und schließlich, etwas weiter draußen, auf einen Felsen im Meer. „Das ist Cucurucu“, sagt er. Cucurucu? „Dieser Felsen ist auf vielen Bildern Dalís zu sehen.“ In Momenten wie diesen wird Lalanne zum begeisterten Touristenführer. Er stoppt das Fahrzeug, parkt es am Straßenrand, googelt nach Dalí-Cucurucu-Gemälden. Auch in seinen eigenen Bildern ist der Felsen manchmal zu sehen, eine huldigende Reminiszenz.
„Dalí hat Cadaqués unsterblich gemacht“, sagt er nach einer Pause, während sein Smartphone neben Cucurucu-Bildern auch den „Adler von Tudela“ oder den „großen Masturbator“ zeigt, zwei bizarre Gesteinsformationen vom nahe liegenden Cap de Creus, die Dalí faszinierten. Lalannes Faszination gilt auf der Fahrt zum Kap dem warmen Wind in seinem Nacken. Vom Airscarf-System, der Kopfraumheizung, hat er noch nie gehört. „Ein unsichtbarer Schal?“, fragt er neugierig, um spitzbübisch sogleich anzumerken: „Ist das nicht etwas surreal?“
Um den Leuchtturm am Cap de Creus weht ein frischer Tramuntana-Wind. Das Kap ist Teil eines Nationalparks, der Wind und Regen seine zum Teil bizarren Felsformationen verdankt. Auch Daniel Zerbst beobachtet die Felsen gern im sich ändernden Sonnenlicht. „Diese brutale, scharfkantige, archaische Landschaft scheint so weit weg vom Rest der Welt zu sein, dass ich hier immer zur Ruhe komme“, sagt er. Er schaut in den blauen und wolkenlosen Himmel, blinzelt. Eins seiner Kunstwerke hat kürzlich die NASA ausgewählt. Irgendwo da oben saust neuerdings ein Raumschiff mit seinen Ideen durchs Weltall.