Die „Woche von Nizza“ wird zur Bühne.

Ein Blick auf historische Fotos von 1901: Die Promenade des Anglais, Prachtstraße von Nizza direkt entlang der Côte d’Azur, ist dicht gesäumt mit Zuschauern. Es ist „Woche von Nizza“, mit einer ganzen Reihe von Autorennen eine der wichtigsten Motorsportveranstaltungen der damaligen Zeit. Alle Augen richten sich auf ein Objekt: den Mercedes 35 PS. Das Fahrzeug mit der Startnummer 5 gehört Baron Henri de Rothschild. Am Steuer sitzt Wilhelm Werner. Sein Beifahrer, nach hinten gewendet, hält eine Messinghupe in der Hand, mit der er während des Rennens die Zuschauer warnen wird. Mit kleinem Abstand rechts hinter dem Fahrzeug mitten im Geschehen und am charakteristischen Backenbart klar erkennbar steht Emil Jellinek. Er schaut zufrieden. Kein Wunder.

„Woche von Nizza“ 1901: Alle Augen sind auf den Mercedes 35 PS gerichtet. Rechts hinter dem Fahrzeug mit Backenbart ist Emil Jellinek zu sehen.

Das erste Exemplar des Mercedes 35 PS vor der Auslieferung an Emil Jellinek im Dezember 1900. Der erste Mercedes gilt als erstes modernes Automobil. Er beendet das Zeitalter der motorisierten Kutschen im Automobilbau endgültig.

Mercedes 35 PS: neu, sicher, leistungsstark.

Der erste Zufriedenheitsgrund: Der Mercedes 35 PS ist in mehrerlei Hinsicht Jellineks „Baby“. Denn der erfolgreiche Kaufmann hat von der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) ein neues, sicheres Hochleistungsautomobil gefordert, das bei der „Woche von Nizza“ starten soll. Er kann das Unternehmen davon überzeugen, obwohl das Vorgängerfahrzeug ein Jahr zuvor in schwere Unfälle verwickelt war und die DMG sogar erwogen hat, aus dem Motorsport auszusteigen. Jellineks Wort hat Gewicht. Denn er ist der wichtigste Vertriebspartner für die Produkte aus Stuttgart.

Mercédès Jellinek als Namensgeberin.

Der zweite Zufriedenheitsgrund von Emil Jellinek: Die ebenfalls neue Markenbezeichnung „Mercedes“ geht auf ihn zurück. Es ist der Vorname seiner Lieblingstochter. Der DMG hat er klar gemacht, dass eine klangvolle und international verständliche Modellbezeichnung neben vorzüglicher Technik extrem wichtig für einen Markterfolg ist. Somit hat die Marke Mercedes einen Geburtsort: Nizza.

Die Namensgeberin: Emil Jellinek mit seiner Tochter Mercédès. Die Aufnahme entstand um das Jahr 1895.

Vorbild bis heute: Mercedes-Simplex – hier das Chassis eines 28/32 PS aus dem Jahr 1904. 

Ein Hightech-Produkt.

Der Mercedes 35 PS ist 1901 Hightech pur. Er definiert die Grenzen des Machbaren in der damaligen Automobilwelt vollkommen neu. Unter anderem mit einem niedrigen Schwerpunkt, einer präzisen Lenkung und seinem Hochleistungsmotor nimmt er Abschied von der vorherigen Bauweise, die noch von Pferdekutschen inspiriert war, und gilt als das erste moderne Automobil. Um die Motorleistung ins richtige Licht zu setzen: 26 kW (35 PS) aus 6 Litern Hubraum und eine Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h in der Ausführung mit leichter Sportkarosserie sind nur 15 Jahre nach der Erfindung des Automobils bahnbrechende Topwerte.

Mondänes Leben in Nizza.

Nizza ist genau das richtige Pflaster, um diese technische Novität des Jahres 1901 zu präsentieren. Denn die Stadt ist um die Wende ins 20. Jahrhundert ein internationales Zentrum der Automobilkultur. Insbesondere im Winterhalbjahr trifft sich dort die mondäne Oberschicht aus ganz Europa und auch aus Übersee. Kaufkraft ist vorhanden: Wer etwas auf sich hält, zeigt sich dort mit seinem neuesten Fahrzeug. Und so mancher misst sich auch in einem der Wettbewerbe der „Woche von Nizza“: Sie ist ein Höhepunkt des luxuriösen automobilen Lebensstils.

Adäquates Domizil: Villa Mercédès der Familie Jellinek an der Promenade des Anglais 54 in Nizza. Jellinek erwirbt das Anwesen im Jahr 1902.

Die Familie von Emil Jellinek am Hafen „Port Lympia“ in Nizza an der Dampfyacht „Mercédès II“. Das unmittelbar an der Yacht stehende Fahrzeug ist der Mercedes-Simplex 60 PS Reisewagen der Jellineks.

Jellinek, der erfolgreiche Kaufmann.

Emil Jellinek bewegt sich souverän inmitten dieser Oberschicht. Beispielsweise eine mondäne Villa direkt an der Promenade des Anglais und eine luxuriöse Dampfyacht sind äußerer Ausdruck seines Lebensstils. Über Einladungen und gesellschaftliche Ereignisse pflegt und knüpft der Kaufmann unentwegt Kontakte zu einer technikaffinen und investitionsstarken Klientel.

Der Mercedes 35 PS siegt und siegt und siegt.

Vom Potenzial des Mercedes 35 PS ist Jellinek absolut überzeugt. Und die „Woche von Nizza“ gibt ihm recht: Am 25. März 1901 gewinnt Wilhelm Werner die Fernfahrt Nizza–Salon–Nizza über 392 Kilometer mit einem Durchschnitt von 58,1 km/h. Dieser Erfolg gilt als erster Rennsieg eines Mercedes überhaupt. Am 28. März stellt Claude Lorraine Barrow mit einem Mercedes 35 PS einen neuen Weltrekord über die Meile bei stehendem Start mit einem Durchschnitt von 79,7 km/h auf. Und am 29. März siegt Wilhelm Werner beim Bergrennen Nizza–La Turbie, der Höhepunkt jeder „Woche von Nizza“, in der Klasse der zweisitzigen Rennwagen in neuer Rekordzeit und mit 51,4 km/h im Durchschnitt. Auf Platz 2 kommt Albert „Georges“ Lemaître ebenfalls auf Mercedes 35 PS ins Ziel. 

Und in der Klasse der sechssitzigen Wagen gewinnt der Fahrer Thorn mit 42,7 km/h im Durchschnitt gleichfalls mit einem Mercedes 35 PS. 

Jellineks Freude über diese großartigen Erfolge dürfte nicht allein sportlicher Natur sein. Denn er weiß, dass Rennsiege seine Kasse als Generalvertreter der DMG klingeln lassen werden. Und so kommt es auch. Er verkauft zahlreiche Fahrzeuge, auch der Nachfolgebaureihe Mercedes-Simplex. Die DMG und er sind ein symbiotisches Paar: Die Daimler-Motoren-Gesellschaft baut die herausragenden Luxusautomobile, für die Jellinek eine perfekte Kundschaft hat. Die gemeinsame Aktivität hat einen erheblichen Nachhall: Sie bildet bis heute das stabile Fundament für die Luxusmarke Mercedes-Benz.